Filmdosen im Sand

200 bis 300 Stunden Filmmaterial hat Christoph Schlingensief aus Namibia mitgebracht. Im Berliner Theater HAU gab es einen ersten Bericht über die Dreharbeiten

Der Animatograf, das Herzstück des Projekts, produziert und verzehrt Bilder

Verluste kann man auch planen. Christoph Schlingensief jedenfalls, der vor zwei Wochen erst mit einem 17-köpfigen Team von den Dreharbeiten des Projekts „African Twintowers“ aus Namibia zurückkehrte, hat das Bilderverlieren dort geübt. Seine liebste Kamera sei eine, erzählt er in einem der Filmschnipsel, die stottert und ständig Bilder verliert und statt 24 nur 22 oder 18 in der Sekunde festhält. Oh ja, und seine Tasche mit dem Drehbuch ist gestohlen worden.

Frieder Schlaich, der als Produzent mitreiste und an der Fertigung eines Endprodukts doch mehr interessiert ist als der sich gern im Prozessualen verausgabende Regisseur, äußert allerdings den Verdacht, dass vor dem Drehbuch selbst schon das Interesse an dessen Umsetzung abhanden kam. Wie übrigens auch der Drehplan. An eine gedrehte Szene aber erinnert sich Schlaich genau, die irgendwo bei den 200 bis 300 Stunden Material dabei sein muss: wie nämlich Filmdosen im Sand vergraben werden. Unauffindbar.

Namibia ist ein ideales Land, um verloren zu gehen. Knapp zwei Millionen Einwohner auf einer Fläche größer als Spanien und Frankreich zusammen, bedeckt von Wüsten, Halbwüsten und Savannen. Ob es der Sog der Leere ist oder das ständige Verwischen der Spuren menschlicher Mühe, was Christoph Schlingensief dahingezogen hat, man weiß es nicht genau. Auch nicht nach einem Abend im Berliner HAU-Theater, an dem im Rahmen des Festivals „Politik im Freien Theater“ Frieder Schlaich und der Journalist Claus Phillip von der Reise erzählten und Ausschnitte des Materials zeigten. Eigentlich hatte Schlingensief selbst diesen Abend „Live aus Afrika“ kommentieren wollen, aber jetzt war er verhindert durch persönliche Gründe. So wurde aus dem Abend von ihm ein merkwürdiger Abend über ihn, an dem sein Produzent und ein Autor, der ein Buch über ihn schreiben möchte, tapfer von den Abenteuern der Zusammenarbeit erzählten.

Noch steckt ihnen der Aufenthalt in Lüderitz in den Knochen, jener kleinen Stadt an Namibias Küste, die Schlingensief zum Drehort wählte. Eine Stadt, wie aus der Zeit gefallen, vor sich das Meer, hinter sich Wüste, ein wenig Kolonialstil und viele Autowerkstätten. Nie fühlt man sich dort in der Wirklichkeit zu Hause. Mit dem Schauspieler Robert Stadlober geht Claus Phillip durch die Stadt und versucht Interviews zu führen über die Erinnerung an die Kolonialzeit, als von Lüderitz aus das Land als deutsches Schutzgebiet in Besitz genommen wurde. Straßennamen und Ladenschilder erinnern daran. Aber reden will kaum jemand, zumindest nicht vor der Kamera.

Auf der Website des Regisseurs, www.schlingensief.com, ist ein Gespräch zwischen ihm und dem deutschen Botschafter in Namibia, Dr. Wolfgang Massing, zu lesen. Da geht es Schlingensief vor allem um Fragen historischer Verantwortung, und er regt sich über ein politisches Taktieren heute auf, das sich wie ein Nebel über klare Bilder und klare Aktionen senkt. Mit seiner Aktion zieht er in Area Seven, einer schwarzen Township am Rande von Lüderitz, ein. Die Siedlung aus Blechcontainern und Flutlichtmasten sieht wie ein Lager aus. Auch ein verlorenes Bild, ein vergessener Ort, sagt der Regisseur. Sein Team baut seinen Animatografen auf, eine Drehbühne, auf die ein Schiff gestellt und bemalt wird und Aufbauten für Filmprojektionen entstehen. Der Animatograf ist ein Herzstück des Projekts, Dreh- und Aufführungsort zugleich, Bilder produzierend und verzehrend, der zum dichten Archiv der Obsessionen des Künstlers werden kann. Die Bewohner der Siedlung Area Seven nehmen, allen voran die Kinder, den Aufbau der Bühne und ihren Betrieb wie ein Volksfest. Sonst ist ja nicht mal ein Spielplatz zwischen den Containern zu sehen.

Was macht es schon, das Drehbuch verloren zu haben, erklärt Christoph Schlingensief, wenn der Animatograf durch solche Benutzung eine neue Aufladung erfahre. Das funktioniere wie eine Fotoplatte, die sich selbst belichtet. Er will noch mehr solcher Bühnen aufbauen, in Brasilien und Nepal, und seine Geschichten dort von anderen überschreiben lassen.

Ob so wirklich ein Film entsteht, scheint immer rätselhafter. Vielmehr wirken die Dreharbeiten wie eine Reise in die Vorvergangenheit des Kinos. Die Drehbühne, die in Area Seven mit Menschenkraft bewegt wird, erinnert an Karussells und mechanische Bildermaschinen, die dem Film vorausgingen. Historisch berührt der Apparat damit die Zeit, als von Lüderitz aus die Kolonisierung von Deutsch-Südwest begann. Plötzlich scheint ganz passend, was da passiert.

KATRIN BETTINA MÜLLER