Ins Netz gegangen

Surfen im Internet macht dumm. Und süchtig. Das behaupten britische und US-Wissenschaftler. Stimmen diese Forschungsergebnisse – oder haben am Ende die Psychologen und Soziologen bis heute nicht kapiert, wie das Netz das Leben ein bisschen erträglicher macht?

VON DIETER GROENLING

Am Dienstag bemerkte Daniela F., wie brutal acht Megapixel sein können. Mehr als eine Woche hat es gedauert, bis sie ihre neue Digitalkamera in den Händen hielt. Und nun das. Dabei hat sie extra darauf geachtet, dass die neue Knipse eine hohe Auflösung hat, schließlich wollte sie große und gestochen scharfe Bilder machen können. Wenn sie geahnt hätte, dass nun jeder Mitesser und jeder Pickel erbarmungslos bildschirmfüllend zu sehen sein wird, hätten ihr ein paar Millionen Bildpunkte weniger auch gereicht.

Das kommt eben davon, wenn man das Objekt der Begierde nicht bei einem Händler kauft, wo man ausprobieren und vergleichen kann, sondern bei eBay oder bei einem Discounter. Aber der Fotohändler hätte mindestens 100 Euro mehr verlangt – also studierte sie die Angebote von eBay-Händlern, denn neu sollte die Kamera schon sein. Das ist vernünftig, braucht aber Zeit. Viel Zeit. Da wurden unzählige Auktionen beobachtet, Modelle verglichen und Webseiten von Herstellern gewälzt. Zahlungs- und Versandmodalitäten wurden erforscht, und am Ende ging die ganze Woche und das Wochenende dabei drauf. Gekauft hat sie das gute Stück dann doch bei einem lokalen Computer-Discounter. Der war noch ein bisschen billiger als alle eBay-Händler, Versandkosten entfielen, und sie kann an Ort und Stelle reklamieren, wenn das Ding nicht funktioniert.

Unterm Strich bleibt die schwer zu beantwortende Frage, ob die 100 Euro Ersparnis den ganzen zeitraubenden Aufwand wert waren. Dank unzähliger Stunden vor dem Browser auf der Onlinesuche nach der „Richtigen“ weiß Daniela F. nun alles über Digitalkameras. Aber auch wenn jetzt kein bisschen Restunsicherheit mehr bleibt: Spätestens in ein paar Jahren ist dieses Wissen nutzlos. Damit kann sie jedoch leben: Sie weiß einfach, dass auch im Netz nichts wertloser ist als die Information von gestern. Aber auch wenn Daniela viele Stunden ihrer Freizeit vor dem Bildschirm verbringt, über aktuelle Ereignisse schneller informiert ist als die Konsumenten von Radio und TV und sich im weltweiten Netz bewegt wie ein Fisch im Wasser: Ein onlinesüchtiger Web-Junkie ist sie deswegen noch lange nicht.

Dabei treffen viele der Symptome, die angeblich zu einer Internetsucht gehören, durchaus auf sie zu. Auch Daniela surft oft täglich stundenlang im Netz, manchmal einfach aus Spaß und ohne besonderes Ziel – und findet sich mitunter auf Seiten wieder, die sie gar nicht gesucht hat. Für Psychiater wie die Amerikanerin Dr. Kimberly Young von der Universität Pittsburgh gilt dieses Verhalten bereits als „Internet Addiction Disorder (IAD)“. Das Krankheitsbild Onlinesucht wurde bereits 1995 von dem amerikanischen Psychiater Ivan Goldberg erfunden; Young hat das lediglich nach ihren eigenen Vorstellungen weiter präzisiert – und damit eine großartige Karriere gemacht.

Ihr Konzept gilt jedoch als so unausgereift und wenig ausgegoren, dass sich Wissenschaftler im deutschen Sprachraum nur sehr zögerlich damit auseinander setzen und sich bislang noch nicht mal für eine einheitliche Bezeichnung entscheiden konnten. So werden synonym „Internet-Abhängigkeit“, „Onlinesucht“, „Webaholics“ und andere Begriffe genannt. Sehr schön ist auch „Pathologischer Internet-Gebrauch (PIG)“. Gemeint ist immer das Gleiche: Da verbringen Menschen viel Zeit im Internet, klicken hierhin und dorthin – und gelten als krank, süchtig oder zumindest gefährdet, weil in ihrem persönlichen Leben das Internet einen offenbar deutlich höheren Stellenwert einnimmt, als es nach Auffassung diverser Psychologen bekömmlich wäre. Das ist keineswegs nur eine wilde Theorie aus der Küchenpsychologie – zu diesem Thema gibt es bereits eine Reihe von Diplomarbeiten und Dissertationen. Da wird mit stoffgebundenen Abhängigkeiten wie Rauchen oder Alkohol und besonders gern mit der Spielsucht verglichen. Ein scheinbar spannendes Thema, nur vergessen die Forscher dabei allzu gern, dass jedes intensiv betriebene Hobby – Briefmarkensammeln, Modellfliegerbasteln, Klavierspielen usw. – eine gewisse Aufmerksamkeit und Hingabe erfordert.

Als besonders gefährdet werden die Internetnutzer eingestuft, die sich in finsteren Chat-Rooms herumtreiben, sich in Diskussionsforen wilde Schlachten liefern oder in den Rollenspielen der Multi-User-Dungeons (MUDs) für eine Weile die beschissene Realität vergessen, eine traumhafte neue Identität annehmen und als aktiver Teil der virtuellen Gemeinschaft entsprechend der gewählten oder zugewiesenen Rolle auftreten. Wie bei den gerade von der Berliner Charité mit 7.000 Probanden erforschten exzessiven Computerspielern handelt es sich hier durchweg um Aktivitäten, die deutlich anders sind als bloßes Surfen oder Mailen – und zu denen die Forscher in der Regel aus Mangel an Interesse oder Kenntnissen selbst keinen Zugang haben. Das sind völlig fremde Welten für die brave Forscherseele, und vermutlich werden die Chat- und MUD-Fans allein deshalb in die Gefährdeten-Schublade sortiert. Und wer eingesteht, gelegentlich oder regelmäßig Pornoseiten zu besuchen, ist ohne Zweifel der Onlinesucht verfallen.

Ohne Zweifel werden heutzutage Krankheiten von der Pharmaindustrie frei erfunden. Das kurbelt den Umsatz an. Von der Onlinesucht profitiert bislang kaum jemand – das Krankheitsbild ist noch von keiner Krankenkasse anerkannt. Aber weil prinzipiell alles, was eine starke persönliche Bedeutsamkeit erlangt hat und dem man sich irgendwann nicht mehr entziehen kann, möglicherweise Suchtverhalten auslöst, gibt es das Phänomen Onlinesucht tatsächlich. Auf ihrer Website hat die ehemals selbst betroffene Buchautorin Gabriele Farke („OnlineSucht. Wenn Mailen und Chatten zum Zwang werden“) mehr als 100 Bekenntnisse von Betroffenen und Angehörigen gesammelt. Sehr schnell wird dort klar: Süchtige gefährden vor allem sich selbst – und ihre Beziehungen. Die dort geschilderten Fälle übertreffen das, was an täglicher Nutzungsdauer als normal gilt, jedoch bei weitem. Drei Surfstunden täglich werden von Psychologen schon als bedenklich eingestuft – in Zeiten von DSL-Flatrates schafft das fast jeder. Sind wir bereits ein Volk von Onlinesüchtigen?

Es kommt noch schlimmer: Nach einer Studie, die kürzlich von Psychologen der Universität London im Auftrag von Hewlett-Packard durchgeführt wurde, sollte der Gebrauch von SMS und E-Mail dringend eingeschränkt werden. Sonst geht der IQ um 10 Prozent zurück. Wer viele E-Mails und SMS schreibt und liest, leidet an Infomanie. Und die kann dem Intelligenzquotienten mehr schaden als regelmäßiges Kiffen, das den IQ nur um 4 Prozent absenken soll. Permanent am Computer oder Handy zu hängen und den Fluss der Informationen zu verfolgen erfordere ununterbrochene Aufmerksamkeitsleistung und gleiche einer Sucht. Und die bringe ähnliche Folgen mit sich wie häufiger Schlafmangel, meinen die Forscher. Die Mehrzahl der Befragten gab an, dass sie E-Mails und SMS andauernd überprüfen und auch arbeitsbezogene Mitteilungen in ihrer Freizeit und im Urlaub sofort beantworten.

Schuld am Rückgang der Intelligenz ist nach den Psychologen die „Always on“-Technik. Diese führe dazu, dass die Menschen ständig von Beschäftigungen, die Konzentration verlangen, abgelenkt werden. Um schnell reagieren zu können, ist ihre Aufmerksamkeit stets im Bereitschaftszustand. Das dadurch entstehende Multitasking im Gehirn sorgt für Ablenkung, senkt deshalb die Produktivität und mindert die Beteiligung am sozialen Leben. Arbeitgeber sollten deshalb darauf achten, so der Psychologe Glenn Wilson, dass die Infomanie im Betrieb nicht noch gefördert wird. Besonders die Fähigkeit, zwischen wichtigen und unwichtigen Nachrichten zu unterscheiden, gehe durch die Infomanie verloren.

Genau an diesem Punkt ist eine Gruppe von amerikanischen Universitäten schon einen Schritt weiter und stellt Studenten mit einem neuen Test auf die Probe. Mit einer vom „Educational Testing Service (ETS)“ entwickelten Prüfung zu kognitiven und technischen Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Daten müssen die Probanden im Internet verfügbare Quellen bewerten, Diagramme ablesen und wichtige Informationen aus einer großen Zahl von E-Mails filtern. Eine erste Version des Tests liegt bereits vor und wurde an 3.300 Studenten ausprobiert. Der Test soll Studenten für einen kritischen Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologie sensibilisieren. Sie erhalten zum Beispiel eine Liste mit Google-Treffern und müssen diese dann je nach Nützlichkeit zur Lösung eines vorgegebenen Szenarios bewerten. Später soll der Test Teil der Aufnahmeprüfungen werden.

Das ist aus studentischer Sicht sicher lästig, aber vernünftig. Der weitaus größte Teil der vor dem Bildschirm verbrachten Zeit besteht darin, aus den abertausend Schnipseln exakt die Information herauszufiltern, die gerade gebraucht wird. Mit Sucht hat das rein gar nichts zu tun. Und Daniela F. entdeckte nach einer weiteren Woche in einem versteckten Untermenü ihrer neuen Digitalkamera eine Weichzeichnerfunktion. Seitdem werden eventuelle Hautunreinheiten ganz dezent verschwiegen.