Ich, Du, Er und Liebe

Ein okayer erster Platz für Lucy Fricke und zwei gerechte zweite Plätze für Jörg Albrecht und Dagrun Hintze: Der 13. Open-Mike-Wettbewerb in Berlin

VON GERRIT BARTELS

Es gehört inzwischen zu den Standards von Thomas Wohlfahrt, dem Leiter der Literaturwerkstatt Berlin, in seiner Open-Mike-Eröffnung darauf hinzuweisen, dass der Debütantenboom vorbei sei und allein die Teilnahme für junge Autoren und Autorinnen nicht mehr, wie noch in den goldenen späten Neunzigerjahren, automatisch einen Buchvertrag bedeuten würde. Im Gegenteil, so Wohlfahrt, die Jungen hätten es wieder schwer, und das sei ja gut so.

Bescheiden, wie er sonst gar nicht den Eindruck macht, vergaß Wohlfahrt zu erwähnen, dass im Gegenzug zu dieser Entwicklung der Open Mike in Berlin zunehmende Bedeutung erlangt hat und sich auch des ungebrochenen Interesses eines großen Publikums erfreut. Mag also im Literaturbetrieb reihendeckend gestöhnt werden über die Ödnis und fehlende Welthaltigkeit der jungen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, über die Schwierigkeiten, Debüts am Markt zu platzieren, so versäumt es kein Verlag und keine Agentur, einen oder mehrere Abgesandte im November nach Berlin zu schicken, um eben hier letzte Entdeckungen zu machen.

Wie die Buchmessen in Leipzig und Frankfurt und das Klagenfurter Bachmannlesen gehört der Open Mike seit einiger Zeit zu einem der Top-Termine des Literaturjahres, und auch bei den Autoren ist er beliebt wegen seiner sanften Wettbewerbssituation. Aus den Einsendungen, dieses Mal waren es 653, filtern sechs Lektoren einschlägiger Verlage ihre drei Besten, für die sie dann die Patenschaft übernehmen, und eine Jury aus drei Schriftstellern (dieses Jahr, zigarettenqualmumnebelt: Lutz Seiler, Peter Stamm, Katja Lange-Müller) kürt die Sieger ohne öffentliche, mitunter Ansehen ramponierende Diskussionen.

Nun mochte man aber gerade am ersten Tag in der Wabe, einem im Prenzlauer Berg liegenden Kulturzentrum, in dem das Lesen stattfand, am liebsten ein großes Wehgeschrei anstimmen und mit der jungen Literatur auch diesen Wettbewerb sonst wohin wünschen. Ging es unspektakulär solide los mit einer überdrehten Thomas-Bernhard-Aneignung und prätentiös, aber stimmig vorgebrachter Lyrik, folgten sieben junge Frauen mit hartem Prosabrot, mit spröden Familien-, Beziehungs- und Geburtsvorgangsgeschichtchen. Diese gipfelten in einer leider allzu glatten, ungebrochenen Milieustudie über eine Weihnachten feiernde Proll-Familie, in der auch Unterhemden und die bis zur Neige geleerte Jack-Daniels-Flasche nicht fehlen durften.

Man fragte sich da auch, ob die Lektoren bei ihren Kurzvorstellungen gut daran tun, die Texte zu feiern mit überflüssigen, hohe Erwartungen weckenden Superlativen: „fesselndes Familienpsychogramm“, „irisierende Gefühlsräume“, „existenzielle Verworfenheiten“! Was es da nicht alles gab, und was es dann tatsächlich alles nicht war!

Nach viel schwer erträglicher Kost war erst Jörg Albrechts Prosa-Performance mit Kassettenrekorder und einem Text an der Schnittstelle von Bild und Sprache ein erster Höhepunkt. Vielleicht auch unter dem Eindruck dieses schwachen ersten Tages konnte die Jury nicht umhin, Albrecht mit einem zweiten Platz zu belohnen – auch wenn sein Text im Stillen gelesen formal zwar okay ist, letztendlich aber um ein leeres Zentrum kreist: Er mag „Sehgewohnheiten in Frage“ stellen, wie die Jury lobte, doch wäre das In-Frage-Stellen von Lesegewohnheiten eher das Gebot der Stunde gewesen, und ein zwingender Stoff dazu.

Immerhin machte Albrecht Mut für den folgenden Tag, der keinen wirklichen Ausfaller mehr nach unten hatte. Plötzlich konnte man sich vorstellen, dass es überhaupt einen Sieger gab, plötzlich lud, bei aller Risikoarmut und allem realistisch Abgesicherten, eine Reihe von Texten zu Wetten auf die drei ersten Plätze ein. Wie etwa die zwischen Kalauern, schneidender Ernsthaftigkeit und Zitat-Pop pendelnden Kurzgedichte von Soma Amos. Oder Ariane Fabers Geschichte „Sabine Schneider“, die schön leicht und motivisch sicher ein Vorstellungsgespräch aufbereitete. Das Rennen aber machte die 34-Jährige Dagrun Hinze mit ihrem durchsichtig kunstvollen und flott vorgetragenen Ich-Du-Er-Wir-und-die-Liebe-Meta-Text „Ich schreibt Anima“, für den sie sich mit Albrecht den zweiten Platz teilen durfte. Und die 31-jährige Leipziger Literaturinstitutsstudentin Lucy Fricke, die für ihre elegische Vater-Tochter-Geschichte „Winken bis nach Buenos Aires“ den ersten Preis erhielt, mit weitem Abstand vor den anderen, wie die Jury betonte, da der Text „sofort den Eindruck erweckte, dass er von Lucy Fricke einfach erzählt werden muss“.

Frickes Geschichte hatte was, keine Frage. Nur „der weite Abstand“ überraschte, da auch hier Sicherheit und Konvention vor Wagnis und Experiment gehen, die Leipziger Literaturschule freundlich grüßt und höchstens die Souveränität überzeugt, mit der Fricke viel Stoff in ihrer Geschichte unterbringt und Anschlussfähigkeit für Größeres schafft: ein krebskranker Vater, der nach 18 Jahren seine Tochter wiedersehen möchte, eine Tochter, die daraufhin wahnsinnig aufgeregt ist, ein Onkel in Argentinien, ein Stiefbruder, der an Aids verstorben ist, Erinnerungen an die Jahre unter Kohl und schließlich ein klug im Text vorbereitetes filmreifes Ende. Umstandslos von Hollywood gelernt hatte übrigens auch Fricke, als sie erschöpft und verlegen ihren Dank an Jury und Publikum aussprach: „Ich bin platt.“