Sabotage aus dem Kopfhörer

Reime voller Gewalt und Sexismus – die „Neue Deutsche Welle“ der Aggro-Rapper erobert die Charts. Gar nicht cool, sagen Pädagogen in Köln

VON SEBASTIAN SEDLMAYR

Ich stech dir in den Hals und danach in den Bauch, um sicher zu sein, dass du auch wirklich tot bist, fick ich auf dich ein, bis alles blutrot ist.

B-Tight, Märkisches Viertel, nicht auf dem Index

Nur noch ein paar Zentimeter, dann kippt der Sessel um. Dennis* turnt gedankenverloren auf dem Mobiliar herum, hebt es hoch, lädt es sich auf den Bauch. Was er an diesen Texten von B-Tight so toll findet, wurde er gefragt. Dennis hat keine Antwort und kippelt verlegen mit dem Polstermöbel. Der elfjährige Junge mit dem blondierten Kurzhaarschnitt und den Jogging-Klamotten scheint überhaupt nicht zu merken, dass er schon wieder eine der „Regeln für den Umgang mit den Räumen und Gegenständen in der Gruppe Ypsilon“ bricht.

„Du willst unbedingt ans Licht …“, fängt er an und wippt dabei rhythmisch mit dem Sessel. „Doch kommst nicht an mir vorbei, schenk mir weiter böse Blicke und ich fetze dich zu Brei“, geht der Text weiter. Aber Dennis wird nach dem ersten Satz unterbrochen. „Hey!“, ruft die Aufsicht, „kennst Du die Regeln nicht?!“ Innerhalb einer Minute hat Dennis zwei Regeln gebrochen – eine im Umgang mit Gegenständen und eine im Umgang mit Menschen: „Ich singe oder spreche keine Liedtexte, die in der Tagesgruppe verboten sind (Sido, Fler, B-Tight etc.), auch keine Sätze oder Passagen daraus.“

Dennis ist heute der Erste in der Caritas-Tagesgruppe Ypsilon, die liegt in Köln-Kalk, umgeben von urbaner Perspektivlosigkeit. Offiziell sind hier 30 Prozent der Erwerbsfähigen arbeitslos – mit steigender Tendenz. Die Eltern der zehn Kinder zwischen 10 und 13 Jahren, die an diesem Nachmittag da sind, bekommen vom Ypsilon „Hilfe zur Erziehung“: „Das Jugendamt macht den Eltern meist sehr deutlich, dass sie dieses Hilfsangebot annehmen sollten“, sagt der Sozialpädagoge Oliver Wirtz, der im Ypsilon arbeitet. Eigentlich dürfe das Amt zwar erst eingreifen, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist. „Das soziale Wohl dieser Kinder ist aber enorm gefährdet, längst bevor das Amt offiziell Handhabe hat“, sagt Wirtz. „Das versuchen wir zu kompensieren.“ Sänger wie B-Tight sabotieren diesen Versuch.

Pädagogen-Alptraum

Die Liedstrophe, zu der Dennis ansetzt, entstammt einem Song von B-Tight, einem der Berliner Rapper, die derzeit wie Sido, Fler, Bushido und einer Handvoll Nachahmer mit ihren Gewalt verherrlichenden Texten in den Charts nach oben schießen, deren vor Obszönität und Aggression strotzendes Vokabular in fast jedes Kinderzimmer, auf fast jeden MP3-Player von Halbwüchsigen dringt. Sie nennen ihre Musik „Neue Deutsche Welle“. Doch für Pädagogen wie den Leiter der Ypsilon-Gruppe, Roland Kubitza, ist sie ein Alptraum. „Für die Kinder bedeuten die Texte: Wenn du Gewalt ausübst, bist du cool.“ Die Aggro-Rapper, wie sie nach dem gemeinsamen Berliner Plattenlabel genannt werden, propagieren, Probleme seien mit Gewalt zu lösen und Frauen zum Ficken da. Gibt es Parallelen zu früheren Musikstilen und Subkulturen? „Dieser Gewaltaspekt und das Frauenbild stellen schon eine neue Qualität dar“, glaubt Kubitza.

Ein paar CDs der Aggro-Rapper stehen auf dem Index, gelten als jugendgefährdend, andere nicht. Der elfjährige Dennis kennt alle. Wenn er nach der Schule im „Ypsilon“ ankommt, muss er den MP3-Player abgeben. Aber die Texte sind in seinem Kopf. Damit sie da nicht rauskommen und als verbale Waffen gegen Kinder und Pädagogen verwendet werden, gibt es die erwähnte Regel Nummer 23 zum „Umgang mit anderen Menschen“. Wer die Regeln nicht einhält, bleibt in der Tagesgruppe und muss weiter üben. Das ist die Strafe. Wer die Regeln einhält, bekommt dafür kleine Holzkugeln, maximal vier Stück pro Tag. „Positive Verstärkung“ heißt das im Pädagogendeutsch. Wer innerhalb von drei Wochen 55 Kugeln gesammelt hat, darf ins Kino oder ins Phantasialand. Es ist nicht ganz klar, ob ein Kind wie Dennis das überhaupt anstrebt. Jedenfalls hat er noch nicht viele Punkte gesammelt. Seine Regel ist die Regelverletzung.

Erwachsene Posen

Zum Mittagessen sitzen acht Ypsilon-Kinder beisammen. Heute, so erfahren sie von Oliver Wirtz, gibt es eine einmalige Ausnahme: Vier Kinder dürfen in einem abgeschlossenen Raum für etwa eine Stunde über die Aggro-Texte reden. Das Gespräch, gedacht als Suche nach dem Grund für die Faszination der gewaltverherrlichenden Texte, wird keines. Reflexion findet nicht statt. Die vier Kinder Dennis, Maik (13), Mia (12) und Marina (11) fangen an zu singen, zu rappen. Sie kokettieren mit den Posen Erwachsener. Mia scheint mehr damit beschäftigt zu sein, wie ihr Mädchenkörper auf die Jungs wirkt als mit den Fragen, die ihr gestellt werden. Marina ist die Coolness in Person. Maik spielt das Ganze herunter. Und Dennis wippt auf dem Stuhl. Ob sie sich nicht angegriffen fühlt, wenn Sido von Frauen als Nutten spricht? „Nee, wieso, ich bin doch keine Nutte“, sagt Mia. Ob sie nicht glaubt, dass Sido damit alle Frauen meint? Ihre Antwort ist ein verlegenes Lächeln, in dem eine Gegenfrage zu liegen scheint: Bin ich nicht zu hübsch, um eine Nutte zu sein?

Nach einer Stunde reicht es. Alle Argumente sind ausgetauscht: Die Musik ist cool, die Texte sind cool. Basta. Die vier Kids rennen zurück in den Ypsilon-Raum der Regeln. Mia zieht Dennis an den Haaren, Marina rempelt einen anderen Jungen an, Maiks Handy klingelt in der Hosentasche. Für jeden dieser Regelbrüche gibt es eine Kugel weniger. Um 17 Uhr verlassen die Kinder das Ypsilon. An der Bushaltestelle haben sie wieder die Kopfhörer auf.

*alle Namen von der Redaktion geändert