Geschlossene Gesellschaft

Die Hölle, das sind die auf dem Rücksitz: Nicolai Albrechts DFFB-Abschlussfilm „Mitfahrer“ findet sein Personal in der Mitfahrzentrale

VON DIETMAR KAMMERER

Man kennt die Situation. Kein Geld fürs Bahnticket, kein Auto, aber Reiselust. Man kann sich auf sein Glück beim Trampen verlassen oder auf die Mitfahrzentrale. Dann entstehen für die Dauer einer Fahrt Zweckgemeinschaften, die seltsame soziale Gebilde sind. Mehr körperliche Nähe, als man Leuten, die man überhaupt nicht kennt, ohne Not zugestehen möchte. Trotzdem muss man sich mögen, Interesse heucheln und mit allen Gesten zeigen, wie toll und solidarisch man es findet, sich gegenseitig zu helfen und der Bahn und ihrer Preispolitik eins auszuwischen. Da kriegen selbst Benzinkosten-Sparmodelle so einen Hauch von Kommune. Draußen die Autobahn, das betonierte Versprechen uneingeschränkter Mobilität, am Horizont der Sonnenuntergang und drinnen keine Möglichkeit, dämlichen Gesprächsthemen auszuweichen.

Nicolai Albrecht, Regieabgänger an der dffb, hat aus solchen Situationen einen Film gemacht. Drei Autos, neun Personen, tausende Autobahn-Kilometer. Da ist der Gameboy-Addict, der ohne Mamas Wissen einen Trip nach Berlin unternimmt, um das Wochenende durchzufeiern. Da ist die nicht mehr ganz junge Mutter, die unterwegs ist, um einem ihrer Exliebhaber den Allrad-Geländewagen zurückzubringen und vielleicht, aber das will sie nicht zugeben, ihre Beziehung zu kitten. Der nervtötende Bademodenvertreter (Ulrich Matthes), unter dessen Maske als betont lockere Labertasche die Abgründe seiner Figur wie unter ganz dünner Haut durchscheinen. Der Asylbewerber, der in der Hoffnung auf eine Aufenthaltsberechtigung durch Scheinheirat gegen seine Residenzpflicht verstoßen muss. Da ist die angehende Schauspielschülerin, die für die soundsovielte Aufnahmeprüfung in die Hauptstadt muss. Sie probt ausgerechnet Zeilen aus Sartres Stück „Geschlossene Gesellschaft“. Daraus kennt man dieses eine Bonmot: Die Hölle, das sind die anderen.

Dass die Autobahn des Deutschen meistgeliebtes und meistgehasstes Bauwerk zugleich darstellt, ist bekannt. Immer noch ist sie die einzige Architektur hierzulande, die es – dank Kraftwerk – bis in die Annalen der Popkultur geschafft hat. Wer an solch einem Ort einen Film drehen will, hat eine wahrhaft undankbare Aufgabe gewählt: Der gesamte Produktionstross ist ständig in Bewegung, Kamera, Licht und Regie auf engstem Raum auf Lkw-Pritschen, kaum Platz für die Schauspieler. Und all das im Sommer bei Affenhitze und unter ständiger Aufsicht der Verkehrspolizei, die auf keinen Fall ins Bild kommen darf. Ein beachtlicher logistischer Kraftakt, zumal für einen Abschlussfilm.

Dass „Mitfahrer“ vor allem an Konstruktion und Ausleuchtung mikrosoziologischer Dramen interessiert ist, ist seine Stärke. Dass er sich nicht zu beschränken vermag, seine Schwäche. Wie in einer Laborsituation wird jede denkbare Personenkonstellation einmal unters Brennglas genommen, je nachdem, wer es gerade mit wem im Auto aushalten muss: der Manische mit der Zicke, der Neurotiker mit der Schweigsamen oder dem ängstlichen Versager. Was wir über die Figuren wissen, können wir nur aus den Dialogen erfahren, und wenngleich die Schauspieler sich alle Mühe geben, den begrenzten Raum auszureizen, der ihnen auf Vorder- und Rücksitz gelassen wird, so fallen im Ergebnis die einzelnen Erzählfäden zuweilen stark auseinander.

Irgendwann sind es zu viele Schicksale und Geschichten, und nicht alle sind gleich fesselnd. Die spannendste Besetzung fällt zudem ausgerechnet dem scheinbaren Unsympath zu: Ulrich Matthes’ Darstellung eines Frauenbegrapschers, der auf der Autobahn mit allen Mitteln Kontakt sucht, weil seine Familie ihm die Tür vor der Nase zuschlägt, ist so schmerzlich und so eindringlich, dass man ständig wegsehen möchte, ohne es zu können. So wirkt „Mitfahrer“ uneinheitlich. Von manchem hätte man gerne mehr gesehen, von anderem weniger. Zwischen Zuschauer und Film ist es wohl einfach so, wie es der Untertitel ankündigt: Jede Begegnung ist eine Chance. Nicht mehr und nicht weniger.

„Mitfahrer“. Regie: Nicolai Albrecht. Mit Ulrich Matthes, Jana Thies u. a., Deutschland 2004, 90 Min.