Die Party in Kreuzberg fällt aus

In einem Wettlokal in der Oranienstraße verfolgen fünfzig junge Deutschtürken, wie die Türkei die Qualifikation zur Fußball-WM verpasst – und der Traum vom Duell gegen die Deutschen platzt

Das Wettbüro war früher ein Klublokal, in dem auch illegal gezockt wurde„Drei Millionen Türken, die hier leben, sind jetzt nicht bei der WM dabei“

von Jan Sternberg

Die Ausschreitungen in Istanbul nach dem WM-Qualifikationsspiel der Türkei gegen die Schweiz bekommen die fünfzig türkischen Fans im Hinterzimmer des Kreuzberger Wettbüros nicht mit. Fast so schnell wie die Schweizer Spieler in den Kabinengang des Istanbuler Stadions rennen die jungen Deutschtürken am Mittwochabend aus dem Lokal an der Oranienstraße – eine Flucht aus Trauer nach dem 4:2-Sieg, der dennoch eine Niederlage war. Vor der Tür hängende Köpfe – und keine Wut, die sich entladen muss. „Drei Millionen Türken, die hier leben, sind jetzt nicht bei der WM in Deutschland dabei“, grämt sich der 29-jährige Hakan Celebi. „Die Party in Kreuzberg nächstes Jahr fällt aus.“

Hakan atmet durch nach neunzig Minuten äußerster Anspannung vor der Großleinwand im Sportwettbüro. Das hier war früher einmal ein Klublokal, in dem auch illegal gezockt wurde. Der neue Besitzer holte sich eine Lizenz für das Wettgeschäft und profitiert jetzt davon, dass bei großen Spielen die Hütte weiterhin voll ist. Auf kleinen Bildschirmen, die während des Istanbuler Krimis kaum jemanden interessieren, flimmern Quoten für die russische Liga und den englischen Pokal, auf einem anderen läuft Handball.

In diesem Ambiente ist die Schiedsrichterbeschimpfung „Hoyzer!“ besonders effektiv. Hakan brüllt es in der ersten Minute heraus, nachdem der Türke Alpay mit der Hand zum Ball geht und der Mann in Schwarz auf den Elfmeterpunkt zeigt. Der Schweizer Alexander Frei verwandelt, 1:0 für die Eidgenossen, Totenstille in der Oranienstraße. Jetzt brauchen die Türken nach dem 0:2 im Hinspiel vier Tore, um es doch noch zur WM zu schaffen.

Hakan, Fan von Galatasaray Istanbul und Bayern München, ist fußballverrückt seit seiner Kindheit. Er hat auf den Bolzplätzen am Mariannenplatz gekickt, gegen Neco Celik, der heute Filme wie „Alltag“ und „Urban Guerillas“ dreht, und den Schauspieler Erhan Emre („Zeit der Wünsche“). Damals war Fußball die Alternative zur Gangkultur der „36 Boys“.

Neco Celik, einst aktives Gangmitglied, wollte seine jüngeren Brüder und deren Freunde davon abhalten, es ihm nachzutun. Hakan arbeitet heute in der Telekom-Branche, Neco und Erhan sind seine Freunde geblieben. „Die Drehbücher ihrer Firma ,36 Pictures‘ bekomme ich meist als Erster zu lesen“, erzählt er. Im aktuellsten davon geht es um Fußball: Ein deutsch-türkisches Fußballtalent aus Kreuzberg wird von Klubs von Berlin bis Istanbul und beiden Nationalmannschaften umworben.

Der Film sollte eigentlich zur WM 2006 fertig sein und mit einem Finale zwischen Deutschland und der Türkei im Olympiastadion enden. Die Niederlage macht Neco Celik nun einen Strich durch die Rechnung. Der Film ist erst einmal verschoben. „Aber das Projekt bleibt aktuell“, sagt er am Telefon aus Istanbul, wo er gerade seinen ersten Film für den türkischen Kinomarkt dreht – ein Kammerspiel in einem Restaurant; Arbeitstitel: „15 Minuten auf kleiner Flamme“.

„Das Thema ist weiter relevant – Nuri Sahin hat das doch gerade bewiesen.“ Der 17-Jährige von Borussia Dortmund schoss vor vier Wochen das Siegtor in einem Testspiel für die Türkei gegen Deutschland. „Er hätte auch für Deutschland spielen können. Aber die haben ihn nicht umworben, ihn ignoriert. Sie haben den Jungen verpasst“, sagt Celik.

Nuri Sahin hat geschafft, wovon Hakan Celebi geträumt hat, als er vor zwölf, fünfzehn Jahren für die Jugendmannschaften von Hertha Zehlendorf und Türkyemspor über die Plätze rannte: Das Siegtor für das türkische Nationalteam zu schießen, gegen Deutschland. „Aus dem Hintergrund müsste Hakan schießen – 2:1!“ Warum unbedingt gegen Deutschland? „Ich lebe hier, es ist mein Land“, sagt Hakan. „Aber wir haben es hier immer schwerer gehabt als die Blonden – und träumen davon, es ihnen mit einem Sieg im Fußball zeigen zu können.“

Auf der Leinwand machen Hamit und Halil Altintop inzwischen Werbung für Joghurt und Knoblauchwurst für den deutsch-türkischen Markt – auch zwei dieser Talente aus Deutschland. Gegen die Schweiz spielt Hamit, ackert, rennt, wie alle seine Mitspieler. „Deutsche Tugenden“ habe er, hat er kürzlich dem Kicker erzählt. Dann die 24. Minute: Freistoß von halblinks, Flugkopfball Tuncay, 1:1. Das Wettbüro tobt, die Türken sind wieder im Spiel. Vor der Pause noch das 2:1, wieder ein Flugkopfball. „Jetzt noch ein drittes Tor vor der Pause“, fordert der Kommentator. Hakan schüttelt den Kopf: „Sollen sie erst mal das Ergebnis halten.“

Pause, durchatmen. Zwei Treffer fehlen noch. Hakan erklärt, warum so viele Talente aus Deutschland in der Türkei landen – der Berliner Ümit Karan zum Beispiel, Stürmer bei Galatasaray, den er aus den Jugendmannschaften kennt. „Die erste Generation wollte immer zurück – und nur ganz wenige haben es geschafft. Wenn sie sehen, dass ihre Kinder und manchmal Enkel Superstars in der Türkei sind, ist das das Größte.“ Der alte Gastarbeitertraum von der erfolgreichen Rückkehr, erfüllt auf Umwegen.

Die zweite Halbzeit beginnt, wie die erste endete: Die Türken rennen die Schweizer in Grund und Boden. Dann zeigt der belgische Referee de Bleeckere wieder auf den Elfmeterpunkt, diesmal für das Heimteam. Die 50 Fans in der Oranienstraße springen auf, jubeln. „Jetzt muss er ihn nur noch reinmachen“, zittert Hakan. Necati macht’s, 3:1. Eine SMS läuft auf Hakans Handy ein: „Fast geschafft.“ Die Türken rennen weiter, doch durch die Abwehrlücken stehlen sich immer wieder Schweizer, Frei versemmelt zweimal freistehend. Eine Warnung: In der 84. Minute klappt’s, Streller ist durch, 3:2. Hakan nimmt seinen Mantel und rennt auf die Straße, kommt nach einigen Sekunden zurück. Auf einem der kleinen Monitore im Wettbüro kann eine Springreiterin ihr Pferd nicht unter Kontrolle bringen, es scheut dreimal vor dem Hindernis. Niemand bemerkt, wie passend dieses Bild gerade ist.

Nach fünf Minuten Grabesstille dann noch das 4:2 für die Türken, doch jetzt brauchen sie noch ein Tor mehr. Es kommt nicht. „Natürlich bin ich jetzt für Deutschland“, sagt Hakan hinterher. „Das ist keine zweite Wahl, das ist schließlich meine Heimat.“

In Istanbul bricht zur gleichen Zeit die Hölle los. „Die Türken haben sich wieder einmal als schlechte Verlierer erwiesen. Sie haben einen Fehler gemacht, und dafür müssen sie jetzt wohl büßen“, sagt Neco Celik am Handy. „Aber diese Mannschaft hätte es verdient gehabt, dabei zu sein.“

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