Nicht jeder hat eine Bleibe

Sanft rieselt der Schnee in den Zeichentrickhäuserschluchten, und am Ende jubelt ein Feuerwerk: Mit „Tokyo Godfathers“ hat Satoshi Kon ein schönes Weihnachts-Anime gedreht, in dem drei Obdachlose ein Kind retten

Zunächst kommt es einem seltsam vor, sich einen Weihnachtsfilm schon im November anzuschauen. Noch seltsamer, wenn dieser Film aus Japan kommt, einem Land also, dessen christlicher Bevölkerungsteil bei 2,5 Prozent liegt. Vielleicht heben sich diese beiden Seltsamkeiten jedoch wieder auf, wenn man sie addiert, und alles ist logisch in dem Sinne, dass Weihnachten eher eine versöhnlich-freundliche Stimmung beschreibt, die weniger mit einem genauen Datum als mit Winter und Dunkelheit zu tun hat. Darauf setzt ja auch mein Edeka-Markt, in dem es Weihnachtsgebäck schon seit Oktober gibt, was die türkischen Betreiber unmöglich finden.

In dem schönen Anime „Tokyo Godfathers“ von Satoshi Kon („Perfect Blue“) rieselt sanft der Schnee in den Häuserschluchten Tokios. Die hyperrealistisch gezeichnete Stadt fasziniert einen umso mehr, als man sie schon so häufig als Leser oder Filmegucker besucht hat, ohne je dort gewesen zu sein. Es ist kalt, und nicht jeder hat eine Bleibe.

Es gibt die, die drinnen, und die, die draußen sind, und die, die von draußen ins warme Drinnen wollen – das ist die Weihnachtsstruktur. Das locker John Fords Weihnachtsklassiker „Three Godfathers“ variierende Abenteuer erzählt von drei Obdachlosen – Myuki, einer jungen Ausreißerin, Hana, einer alternden, lustig pathetischen Dragqueen und Gin, einem gestrandeten Ex-Radrennfahrer, der doch in Wirklichkeit … Aber das erfahren wir später. Das Leben hat sie auf die Straße gespült. Gerade waren sie noch auf einer Weihnachtsfeier für Obdachlose, helle Stimmen sangen „Stille Nacht, heilige Nacht“, und die Penner machten zynische Bemerkungen, und schon finden sie ein Baby im Müll. Hana ist ganz begeistert. Schon immer wollte sie ein Kindchen haben. Nun geht es jedenfalls darum, das Baby kurzfristig zu versorgen und langfristig wieder seinen Eltern zuzuführen.

Es entstehen allerlei Abenteuer in den unterschiedlichsten Teilen Tokios. Mal landet das Trio bei den Reichen, mal bei den Armen. Oft werden die Außenseiter gedemütigt. Es kommt zu wilden Verfolgungsjagden. Besonders schön ist eine U-Bahn-Szene, in der Teenager emsig SMS tippen. Bei ihrer Suche stoßen die drei Helden auf ihre eigene, verdrängte Geschichte und lernen, dass sie selbst die verantwortlichen Autoren ihrer misslichen Lage sind. Diese Erkenntnis führt sie auf die Straße zum Glück. Das mag man als politisch naiv und als konservativ bekritteln. Aber so ist das Weihnachtsfest, deswegen geht man ins Kino, und in der anders gearteten Wirklichkeit lebt man schließlich schon selber.

Wenn man es nicht gewohnt ist, längere Zeichentrickfilme zu gucken, ist der Wechsel zwischen draußen und drinnen, zwischen distanziertem und teilnehmendem Blick in der auch kindkompatiblen Geschichte sehr schön. Anfangs betrachtet man die beeindruckenden Stadtlandschaften und Räume wie einzelne Bilder, grinst zuweilen, wenn manches einen an die Playstation erinnert, bemängelt kurzzeitig die zu starke Typisierung der Helden, versinkt dann aber in der Geschichte, die mit einem jubelnden Feuerwerk endet.

Langsam gleitend passt sich das Gehirn an und das Gefühl vergisst, dass es Zeichnungen, also Zeichen, sind, mit denen es sich verbündet hat. Das erstaunt mich wirklich immer wieder.

DETLEF KUHLBRODT

„Tokyo Godfathers“ (Regie: Satoshi Kon, Japan 2003, 90 Min., OmU) läuft bis zum 30. 11. im Eiszeit in Kreuzberg