526 Minuten unter der Laterne

Bear Family Records, gerade dreißig Jahre alt geworden, ist wie vieles, was im Underground begann, in der Mitte angekommen: Nun bringt das Plattenlabel als Begleitung zu einer Ausstellung vom Haus der Geschichte die Luxusbox „Lili Marleen“ heraus

VON JAN FEDDERSEN

Neulich, an einem heftig verregneten Augustwochenende in Worpswede, schien die Welt der Bear-Family-Gemeinde allen Wolkenbrüchen zum Trotz in Ordnung. Man war älter geworden, klar. Dreißig Jahre war das Label, das am Rande des Teufelsmoors beheimatet ist, geworden. Das Fest rauschte so vor sich hin in der Music Hall, man spielte Hillbilly, Westernmucke, man schwofte und langte am Büfett tüchtig zu. Bibi Johns, ja auch kein Teenager mehr, war nicht einmal die Älteste: Die Menschen, die aus diesem Label einen weltweit begehrten Brand gemacht haben, sind ja selbst allenthalben im großelterlichen Alter. Und das war mal aus der linksalternativen Szene hervorgegangen?

Ja, so war das. Richard Weize und Hermann Knülle, Plattensammler mit manischen Zügen, Männer mit antibürgerlichem Appeal, hatten einfach eine gute Idee: die Unterhaltungsmusik der Fünfziger bis Siebziger zu sortieren, nach verschollenen Aufnahmen zu suchen – nicht im Sinne von Greatest-Hits-Compilationen zu Dumpingtarifen, sondern, quasi wissenschaftlich editionsbewusst, mit akkuratem Werkbewusstsein. Bis heute sind mehrere hundert CD-Boxen erschienen – und manche von ihnen genießen Kultstatus, jene mit den Songs der amerikanischen Folkbewegung der Zwanziger bis Vierziger, die Caterina-Valente-Boxen, Jüdisches aus der Nazizeit oder die zu Friedrich Hollaender. Ob Schlager, Country, Folk, Chanson oder der frühe Rock ’n’ Roll samt Elvis: Publikationswürdig war, was gefällt, was, so Weize, nicht in den filzigen Kellern der Sammler und Plattenfirmen dem Vergessen anheim fallen sollte.

Langsam, aber stetig – wie wohl die alternative Szene überhaupt – wuchs das Unternehmen aus dem Wildwuchs von Lust und Last heraus: Schon vor zehn Jahren begann Weize, der bei Businessterminen in den guten Etagen immer noch in Latzhosen aus Jeansstoff aufzukreuzen pflegt und dem der Zopf nie ausgeredet werden konnte, das Programm seines Hauses auf die bürgerlichen Portemonnaies auszuweiten – vielleicht aber lag auch nur persönliches Interesse in der Neigung, die Boxen immer noch opulenter auszurüsten, bis hin zu DVD-Dreingaben. Aber nicht nur der amerikanischen Kundschaft gefiel das: Man wollte wohl mählich die Luxusausgaben jener Stars besitzen, die man bereits in jugendlicheren Jahren liebte. Archivalien und mehr noch: Devotionalien der eigenen kulturellen Prägung. Das beruhigende Gefühl der Komplettheit, bei Bear Family kennt und pflegt man es. Mögen die Musikmultis Perlen und Raritäten aus ihren Archiven auf Greatest-Hits-Alben platzieren wie Sterneköche Trüffelsplitter auf einem Hauptgang. Die Boxen aus dem Teufelsmoor wirken dagegen marktstrategisch geradezu unbedarft. Hier gibt’s nur alles – oder gar nichts.

Knapp nach dem dreißigsten Geburtstag des Hauses wird Bear Family Records ganz in der bundesdeutschen Mitte angekommen sein: Kommenden Donnerstag ist man Teil der Eröffnung einer Ausstellung im Luftwaffenmuseum der Bundeswehr in Berlin-Gatow, auf einem Gelände, wo noch siebzig Jahre zuvor die Elite des deutschen Offizierskorps ausgebildet worden war. Die Ausstellung ist nicht neu, sie wurde, auf Geheiß des Hauses der Geschichte in Bonn, von verschiedenen Filialen des Goethe-Instituts gezeigt, auch in Amsterdam: „Lili Marleen. Ein Schlager macht Geschichte“.

Lili Marleen? Die Soldatenbraut, die unter der Laterne weint, weil ihr Liebster in die Kaserne, in den Krieg, in den Tod, in irgendeine Ewigkeit zieht, ohne Liebe, aber von süßesten Sehnsüchten begleitet? Der im Grunde letzte deutsche Schlager, der es zum Evergreen rund um die Erde geschafft hat – dessen Töne und Takt ideologieübergreifend gelten und in Amerika ebenso gekannt wird wie in Israel, Russland, Japan oder Argentinien?

Ja, diese Soldatenfrau, erfunden von Hans Leip. Der Hamburger Schriftsteller und Grafiker, so geht die Überlieferung, soll, knapp dreißigjährig, diesen Text aufgeschrieben haben, als er zwei Mädchen zugleich liebte: Lili und Marleen. Kurz vor dem Abmarsch an die Karpartenfront, mitten im Ersten Weltkrieg, soll er beide zu einem Liebesobjekt verschmolzen haben: „Vor der Laterne, vor dem großen Tor, stand eine Laterne, und steht sie noch davor“, interpretiert, genial und unwiderstehlich, von der kühlen Kleinkunstsängerin Lale Andersen.

Das Werk, das da nun nächste Woche vorgestellt wird, Teil eben nun einer Bundeswehrtradition, die sich den Erzeugnissen der populären Künste widmet, ohne Anflug von deutscher Tümelei, ist wie immer von Bear Family Records, so delikat wie gründlich gefertigt. Die Pointe aber ist ja zunächst diese: Früher hätte sich das Plattenlabel dem Song „Sag mir, wo die Blumen sind“ gewidmet, dem pazifistischen Klassiker schlechthin. Dem Lied, das aller Verballhornung durch eine Katarina Witt bei den Olympischen Winterspielen 1994 in Lillehammer zum Trotz immer das Lied der Marlene Dietrich bleiben wird – das Statement einer Künstlerin, die im Nachkriegsdeutschland als Fahnenflüchtige den einen so verhasst war, wie sie von den anderen geliebt wurde.

Der „Lili Marleen“ hätte man sich früher nicht so hingegeben – dieses Eis war so dünn, dass man sich nicht getraut hätte, es zu begehen: Man wäre eingebrochen des Verdachts wegen, ein Lied zu promoten, das ja auch für eine Wehrmachtstradition der Sentimentalität stand – die die Barbareien in Ost- und Südeuropa in aller Weinerlichkeit nur verhüllte. Damit möglichst erst gar kein Argwohn aufkommen möge, betont bereits der Titel der CD-Box die Internationalität des Phänomens: „Lili Marleen an allen Fronten“. Und international geht es hier wahrlich zu: Allein bis Kriegsende erschienen Fassungen etwa in Englisch, Französisch, Estnisch, Dänisch, Schwedisch und Finnisch.

Heutzutage, Richard Weize ist da wenig zimperlich, muss man auf bedenkenträgerische Geschmacksmahnungen allerdings keine falsche Rücksicht mehr nehmen: Man hat sich ja schließlich hinlänglich um die Werke etwa eines Kurt Weill gekümmert. Und zeitgleich mit der Mammut-Box „Lili Marleen“ erscheint auch das auf acht CDs und einer DVD ausgebreitete Gesamtwerk der Brecht-Interpretin Gisela May, des international gefeierten Aushängeschilds der DDR.

Man ist längst auf dem Olymp der ästhetischen Präsenz angekommen. Der Preis der deutschen Phonoakademie, der Bear Family Records in Bälde verliehen wird, ist nicht die einzige Ehrung, die auf den Radarschirmen der Feuilletons wenigstens als Fleck wahrnehmbar sein müsste. Weize und seine Mühen – das ist marktgängig, das ist aber, wichtiger noch, erkennbar des kulturellen Lobes würdig.

Die ästhetischen Suchbewegungen der Bear-Family-Scouts sind fern aller missionarischen Züge, wie sie Achtundsechziger sonst gerne einmal pflegen: Man sammelt und bereitet auf, stellt Materialien zur Verfügung, auf dass sich der Interessierte selbst einen Reim machen kann. Dass der hohe Ton hin und wieder lustvoll zerrissen wird, versteht sich dabei fast von allein. Die Amanda-Lear-Aufnahme von der „Lili Marleen“, um nur ein besonders grelles Beispiel zu benennen, ist von herzzerreißender Übersehnsüchtigkeit. Ein spanischer Star der späten Siebziger, der in seine Klauen alles zu Disco und Laszivität verwandelte, von dem nie ganz klar war, ob sein Frausein echt oder um- und hinoperiert ist, der kann aus der Partie „Soldatenmelancholie gegen den aufrechten Gang“ nicht anders als siegreich hervorgehen: als entschlossene Braut, die den ersehnten Kerl ziehen lässt – und sich nach einem neuen umguckt.

Was die Box der „Lili Marleen“ ansonsten dokumentiert, ist der nobilitierende Verweis auf die Unverwüstlichkeit von gutem Songmaterial: Ob als Heavy Metal, Couplet, ob Schlager, Disco oder Easy-Listening-Hotellobbytonspur – die Melodie ist unzerstörbar, darin den meisten Kompositionen der Beatles ähnlich. Wenn es auch schwer fällt, das Lied nach fast zweihundert Variationen mit 526 Minuten Spielzeit überhaupt wieder aus dem Ohr zu bekommen.

Sogar die Versuche, sich über eine Verballhornung des Textes seines weinerlichen Inhalts zu entledigen, schlugen allesamt fehl. Am Ende ist die Trauer um die Vergeblichkeit der Liebe – und um sie vor allem geht es, das soldatische Setting des Liedes ist nur ein Vorwand – untilgbar. Und das klingt auf Hebräisch, Finnisch, Deutsch oder im Englischen gleich. „Lili Marleen“, so darf man die Begleittexte zur Box weiterspinnen, ist in militaristischen Zeiten entstanden, aber sie bleibt gültig, weil auch die Liebe jenseits des Kriegs so ihre Schwierigkeiten birgt: Abschiede, Wehmütigkeiten, Sehnsüchte und Schmerzen überhaupt.

Volker Kühn, Horst Bergmeier und Rainer Lotz haben das Buch in der CD-Box verfasst, unverdächtig tapfer auf Spurensuche. Ein Buch über die Karriere eines Liedes, das im wehrmachtbesetzten Belgrad der frühen Vierziger begann und Proteste der Landser auslöste, als man es als wehrkraftzersetzend brandmarkte. Das von Deutschen gehört wurde und von sowjetischen Soldaten, von Partisanen und der Résistance. Dessen wehmütige Trompeten jedes Pathos erstickten und dessen Arrangement in Moll so etwas wie tränenden Kummer möglich machte.

Und die Laterne? Die Fantasie möchte, dass die Laterne so etwas wie ein Licht ist in dunkler Zeit – ein Schirm von Helligkeit für eine Form von Privatheit, wie es sie in Kriegszeiten, in Kasernen zumal, kaum geben kann. Der Lichtkegel der Laterne als schummriger Ort für zwei Liebende, die die Welt um sich herum nicht will. Halb Öffentlichkeit, halb Privatestes. Lale Andersen ließ sich im Laufe ihrer Nachkriegskarriere gern vor Laternen abbilden: Arrangements von eher schütterer Intimität. Verschüttete Welten inzwischen, diese Fünfziger und Sechziger. Elternwelten. Und Stoff für andere Geschichten. In „Lili Marleen“ liegen sie nicht mehr verborgen – sie sind unter Rock ’n’ Roll zu buchen oder andere Stile, die Sentimentalität als Pathos der Innerlichkeit nicht mehr kennen wollen.

Ausstellung „Lili Marleen. Ein Schlager macht Geschichte“ im Hangar 3 des Luftwaffenmuseums in Berlin-Gatow, Eröffnung am Donnerstag, 14 Uhr. Anfahrtsskizze über www.luftwaffenmuseum.de. Die 7-CD-Box „Lili Marleen an allen Fronten“ (inklusive eines 180 Seiten starken Buchs) ist über www.bear-family.de erhältlich und kostet dort 153,39 EuroJAN FEDDERSEN, 48, nur seitens der Großeltern mit Sentimentalitäten in puncto Weltkrieg mäßig behelligt, fand erst über die Amanda-Lear-Version der „Lili Marleen“ aus dem Jahre 1978 zum herberen Lale-Andersen-Original