Die Löcher unter dem Fußboden

Mitten aus einem Erdbebengebiet: In „Gezeiten“ versucht Sasha Waltz an der Berliner Schaubühne unser Mitgefühl zu agitieren. Doch das Thema der Katastrophe wird ihr zur Falle – über weite Strecken verliert sich das Stück genau in den aufgeregten Bildern, hinter die es eigentlich vordringen wollte

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Was geschieht mit dem Menschen in Extremsituationen, wie reagiert er in Katastrophen, wollte die Choreografin Meg Stuart vor drei Jahren in ihrem Stück „Alibi“ wissen, das sich tief in Erschütterungen und Verstörungen eingrub. Wie verändert das Wissen um den Terror und die Einschränkung von Freiheit im Namen der Sicherheit das Gefühl der Normalität, fragte die Choreografin Constanza Macras in ihrem schillernden Tanzstück „Big in Bombay“ und breitete eine Welt aus, in der die Abwehr der Bedrohung zu jedem Mittel der Ablenkung greift. Wie ist es möglich, zum Mitgefühl zurückzufinden und aus der Zeugenschaft, mit der wir alle paar Wochen von einer neuen Katastrophe hören, zu einem Verhalten der Solidarität zu gelangen, beschäftigt Sasha Waltz in ihrer neuen Produktion „Gezeiten“, die am Samstag in der Berliner Schaubühne Premiere hatte.

Man sieht, dem Tanztheater liegt die Erforschung des Katastrophischen zurzeit näher als, sagen wir, die Glücksforschung. Es ist die Verletzbarkeit des Körpers und die Gefährdung des Lebens, die zu reflektieren dem Medium Tanz plötzlich als große Verantwortung aufgetragen scheint. In weniger als zehn Jahren sind in den Horizont unserer Erfahrungen so viele Brüche des vermeintlich Sicheren eingedrungen, dass sich dadurch doch verändert haben muss, mit welchem Vertrauen man jeden Tag seines Lebens beginnt. Aber diese Veränderung geschieht fast unmerklich: Sie zu markieren und nach ihrer Bedeutung zu fragen haben sich alle drei Choreografinnen zum Anliegen gemacht. Die Stücke von Meg Stuart und Constanza Macras waren auch an der Schaubühne in Berlin zu sehen.

„Gezeiten“ nun ist ein Abend aus zwei Teilen geworden, der überraschend illustrativ und mit einem ungewohnten Naturalismus auf dem Theater beginnt. Sasha Waltz und ihr Ensemble von 16 Tänzerinnen und Tänzern stürzen sich in die Beobachtung und sammeln Verhaltensweisen von Menschen in Bedrohung, Not und Angst. Wie geht es denen, die sich gerade so retten konnten, die, während laute, polternde Erdbebengeräusche im Stereoeffekt durch den Bühnenraum rasen, sich auf Tischen und Stühlen kleine wacklige Inseln geschaffen haben?

Kleinteilig wird das widersprüchliche Spektrum der Gefühle ausgemalt, das Verlieren der Nerven; der Versuch, Normalität herzustellen; das sprachlose Umeinanderkümmern; die Furcht vor den Gefühlen der anderen; die Suche nach Nähe bis zum erstickenden Klammern; das Umschlagen des Drucks in Aggressivität – kurz, ein ganzes Arsenal von Charakterstudien, Rollen und Situationen, wie sie auch das Genre des Katastrophenfilms bereithält. Selbst das Moment des Thrills ist gegeben, jenes Timing zwischen Phasen der Beruhigung und dem langsamen Wiederauflodern der Gefahr, das jede Inszenierung einer Katastrophe in Hollywood auszeichnet.

Nur geht man nicht zu Sasha Waltz, um Kino life zu erleben. Und auch ihr eigener Anspruch ist nicht, der Spannung des Kinos Konkurrenz zu machen, sondern gerade hinter das Versiegeln und Verschließen der Wirklichkeit in konsumierbaren Bildern zu dringen. Von ihren anderen Stücken her denkt man auch, dass man ihr das zutrauen kann. Der erste Teil von „Gezeiten“ aber verliert sich in aufgeregten Bildern. Dem zweiten Teil gelingt die Transformation und das Entwickeln einer eigenen Sprache zwar über weite Strecken besser. Sehr schön ist etwa eine verlangsamte Passage, die der Behutsamkeit und dem Innehalten gewidmet ist, einem Tasten nach Bildern im Gedächtnis des Körpers, die ihm wieder genug Vertrauen geben, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Diesem stillen Sichwiederfinden folgt eine von Baulärm und Aktionismus erfüllte Phase, die vom Versuch, sich wieder einzurichten, erzählt – aber keine der Aktionen scheint am richtigen Platz, die Betriebsamkeit zielt ins Absurde, Schuhe werden an die Wand genagelt, und wer sie anziehen will, muss Kopf stehen. Am Ende holt das Stück die Versuchung wieder ein, alles von neuem einzureißen und uns in den Abgrund blicken zu lassen, der sich jederzeit zu unseren Füßen öffnen kann.

Viele jüngere Tänzer sind erstmals dabei in dem Ensemble „Sasha Waltz & Guests“, das zwar weiter an der Schaubühne auftreten will, sich als Unternehmen aber gerade selbstständig macht. Das könnte ein Grund sein, warum viele Bewegungsbögen an frühere Stücke der Choreografin wie „Körper“ und „NoBody“ erinnern, sozusagen eine Initiation in ihren Gestus. Vor allem die Wechsel zwischen einem kaleidoskophaften Aufsplittern der Szene in unübersichtliche Einzelaktionen und der Formation in großen Gruppen, die Energie und Konzentration wieder in berührenden Bildern zusammenführen, geben ihren Stücken oft den langem Atem. Auch diesmal sind es die ganz konkreten Verbindungen der Körper, wenn einzelne wie Brücken in der Schwebe gehalten und Fußsohlen sanft auf Schulterblätter und Schlüsselbeine treffen, über die sich ein Gefühl für die Gemeinsamkeit wiederherstellt.

Die Aufführungen von „Gezeiten“ sind mit einem Spendenaufruf verknüpft von Care International, um der Hilfsorganisation, die jetzt besonders für Erdbebenopfer in Pakistan sammelt, eine Plattform zu bieten. Auch damit versucht Sasha Waltz, einen Weg von der Kunst in die Realität zu gehen und praktische Hilfsmöglichkeiten aufzuzeigen. So verständlich der Wunsch ist, der Wille zur Botschaft hat ihrem Stück nicht unbedingt gut getan.