jazzkolumne
: Weiterspielen, ohne Luft zu holen

Es gibt keine Alternative zur Selbstorganisation: Der britische Saxofonist Evan Parker über 40 Jahre europäischen Free Jazz

Sein erster Eindruck von Ornette war, dass er nicht verstand, was er tat. Mitte der Sechzigerjahre war der Saxofonist Evan Parker noch ein Student, der versuchte, klassischen modernen Jazz zu spielen, den modalen Coltrane. Coltrane und Dolphy, und als dann die ersten Platten des New Yorker ESP-Labels herauskamen, Motto „Hier entscheidet der Künstler, was gespielt wird“, wurden sie hellhörig. Selbstbestimmung und Selbstorganisation wurden zu wichtigen Themen für Parker und seine Gleichgesinnten in London, Amsterdam und Berlin.

Eine Komponistengilde, wie Carla Bley und Bill Dixon sie in New York initiierten, schien ihnen zu utopisch. „Doch der Kampf hat sich gelohnt“, sagt Parker jetzt, „wir können immer noch Alan Silva, Cecil Taylor, Bill Dixon, Paul und Carla Bley hören, sind ja alle noch aktiv – das hat sich durchgesetzt“. Vielleicht nicht gerade das ursprüngliche Modell, doch auch Parkers Leute in London hatten versucht, sich zusammenzuschließen, und alle, die davon noch am Leben sind, sind weiterhin aktiv. „Diese Organisationsformen haben Zusammenhänge strukturiert, die bis heute wirksam sind. Wir haben es geschafft – das ist die Erfahrung, die Lektion“, resümiert Parker heute.

Tatsächlich sind Zusammenhänge zwischen der britischen, deutschen und holländischen Szene bis heute vielfältig – die Protagonisten der europäischen Szene haben sich immer gegenseitig unterstützt. Schlippenbachs Globe Unity Orchestra hatte seine Premiere bei den Berliner Jazztagen 1966, und, wie man hört, soll es zum Vierzigsten ein großes Jubiläumskonzert beim nächsten JazzFest geben. In Holland gründeten Misha Mengelberg und Han Bennink 1967 den Instant Composers Pool, aus dem das ICP Orchestra hervorging – es tritt am Samstag beim „Unerhört“-Festival in der Roten Fabrik in Zürich auf.

„Es war immer sehr angesagt, Drogen zu nehmen“, berichtet Parker, „doch Heroin war ja so zerstörerisch. Die Jazz Community war die Live-fast-die-young-Generation, einige taten das absichtlich, sie wollten so leben, romantisch halt. Ich bin nicht so ein Typ, ich hänge gern rum und schaue, was noch kommt, immer hungrig darauf zu spielen.“ Was Evan Parker aus den Einflüssen eines John Coltrane und Ornette Coleman geschaffen hat, ist oft als radikal und exzessiv beschrieben worden, gelegentlich überhöht er noch die musikalische Extremhaltung eines Peter Brötzmann. Die Zirkularatmung, die es ihm erlaubt, einzuatmen ohne sein Spiel zu unterbrechen, und eine virtuose Überblastechnik führen in eine Parker-typische Soundwelt, in der Pfeiftöne, Akkordandeutungen und perkussive Elemente gleichberechtigt zum Einsatz kommen.

Geld sei jedenfalls kein Motiv, diese Musik zu machen, bekräftigt Parker, doch manchmal kommt eben alles zusammen, und das sei dann sehr idyllisch. „Heute sind wir alle sehr beschäftigt“, sagt der 1944 geborene Musiker und Komponist, „ich mache ständig neue Aufnahmen. Die Organisation war irgendwann hinderlich geworden – als wir begannen, taten wir es ja für uns selbst, und wenn es erfolgreich ist, hast du dann keine Zeit mehr, dich um Organisatorisches zu kümmern. Deutschland in den Siebzigern, das war der Motor, die unglaublich große Unterstützung für unsere Musik, die es dort gab.“

Jetzt ist die Community jedenfalls größer, auch ein Zeichen für Erfolg in diesem Segment. „Früher haben wir uns oft gestritten“, gesteht Parker, wenn er über die Winterreise spricht, die alljährliche Dezembertour des legendären Free-Jazz-Trios von Alexander von Schlippenbach (Klavier), Paul Lovens (Schlagzeug) und Parker: „Motto: Zieh dich warm an! Diese Reise hat viele Traditionen, wie den Off-Day in Spielbach, dort Bier und Essen in einem besonderen Brauhaus, das musste sein, seit 30 Jahren machen wir das schon, bestimmte Clubs, Karlsruhe, Bremen, sehr ritualisiert – wie die Musik vielleicht auch.“ Wenn man lange zusammen spielt, führe das zu einem besseren Verständnis des anderen, man improvisiert besser, sagt Parker – Leute, die hingegen meinen, dass eine zu große Kenntnis des anderen die Improvisation behindert, zählen mittlerweile zu den Gestrigen. Die diesjährige Winterreise des Trios dauert zwei Wochen und beginnt am 5. Dezember in Köln.

Das bislang letzte gemeinsame Album von Parker und Schlippenbach wurde vor zwei Jahren in New Orleans und Seattle aufgenommen und ist auf Parkers eigenem Label (psi 04.06/04.07) erschienen. Unter den vielfältigen und, ja, verstreuten Parker-Veröffentlichungen finden sich aktuell Evan Parker & September Winds (Leo Records 428) und Evan Parker Electro-Acoustic Ensemble (ECM 1924).

Das Geheimnis des späten Erfolgs einer kommerziell gänzlich unverdächtigen Musik lüftet Parker wie folgt: „Man darf den Promoter nicht als Feind betrachten, das machen viele Musiker falsch – solange sie keinen Fehler machen, sind sie meine Freunde. Als wir starteten, gab es keine Promoter, in Deutschland gab es nur die Free Music Production, in Holland ICP und in London uns. In Italien, in Pisa, fing es an, dass Agenturen entstanden, die uns Aufträge besorgten, Irène Schweizer, die jetzt auch das ‚Unerhört‘-Festival mit organisiert, wurde wichtig, oft waren es Musiker, manchmal Fans, die Konzerte organisierten – und teilweise sind wir heute ja sogar in der Hochkultur präsent.“

christian broecking