Und Größe bewegt doch

Diese sensationelle Malerei: Die Deichtorhallen in Hamburg und die Kestner-Gesellschaft in Hannover haben sich zur ersten umfassenden Retrospektive des 2002 bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückten Malers Michel Majerus verbündet

Michel Majerus war eine Art Pac-Man, der Bilder fraß und als raffinierte Malerei wieder aussonderte

von HARALD FRICKE

Zum Glück gibt es Google. Sonst bliebe das großformatige Preisschild mit der Aufschrift „Never be the same again“, das Michel Majerus auf Vinylfolie gedruckt hat, völlig rätselhaft. Nach einem kurzen Klick auf die Suchmaschine weiß man: Der Titel stammt von einer Single, mit der Ex-Spice-Girl Melanie C. im Jahr 2000 in den Hitparaden war. So schnell entzaubert das Medium heute die Botschaft, wird das vom Künstler hübsch in Malerei verpackte Spezialwissen zur schnöden Info. Ansonsten ist das Bild aber leer bis auf ein paar fehlfarbene, rostbraune Pixelschlieren. Oben kann man mittig noch „Cool White“ lesen, und das zeigt die gleichnamige Arbeit ja auch: eine glänzende weiße Oberfläche. Mehr ist auf dem an die fünf Meter hohen und bald sieben Meter breiten Minimal-Art-Ungetüm nicht zu sehen.

Nun hängt „Cool White“ neben 20 weiteren Monumentalgemälden in den Hamburger Deichtorhallen. Oder besser: steht. Denn die Exponate sind im Raum wie überdimensionale bis zu zehn Meter hohe Paravents aufgebaut. Eine riesige Kulissenlandschaft, die von gesiebdruckten Space Invaders, gigantischen Kätzchen und wild verschlungenen Doodles strukturiert wird. Die Fensterfront etwa verdeckt eine „Aquarell“ betitelte Leinwand, darauf eine Waschmaschine, die mit einem rotgelbgrünen Pastellmix in XXL gefüllt ist. Die Arbeit war ursprünglich 1996 von Majerus für die Außenvitrine des gegenüberliegenden Hamburger Kunstvereins entworfen worden. Jetzt wirbt am gleichen Ort die Firma „Plakativ Poster“ mit dem Slogan „Größe bewegt“. Das ist, mit Blick auf die gewaltige Bildermaschine von Majerus und ohne falsche Bescheidenheit, wohl wahr.

Doch damit nicht genug. Parallel findet eine zweite Majerus-Schau in der Hannoveraner Kestner-Gesellschaft statt. Auch hier haben Ausstellungsarchitekten ganze Arbeit geleistet: Die Eingangshalle wurde mit Chromstahl ausgelegt, so dass sich hier die eng an eng gehängten, 60 mal 60 cm großen Gemälde auf dem Fußboden spiegeln. Insgesamt sind es hundert Bilder, die Majerus wie Fingerübungen am Fließband fertigte. Komische Prints nach Zeitungsfotos, graffitiartige Acrylschwenks, das zarte Rosa irgendeiner Kultmarke.

Durch den Trick mit dem Spiegel sieht man sämtliche Motive wie in einem Jahrmarktslabyrinth doppelt und kann sich nur schwer auf einzelne Bilder konzentrieren. Aber ein Gemälde fällt doch auf: „pop ist terror“ steht schwefelgelb auf verkehrsblauem Grund. Pop war man in Hamburg schon einmal auf einem Bild begegnet, dort hieß es „high art eats pop“. Das ist bei Majerus kein Widerspruch, sondern Methode; und wie zum Beweis grinst im oberen Stockwerk der Kestner-Gesellschaft der ehemalige Prodigy-Sänger als Feuerteufel auf der rechten Hälfte eines Gemäldes, während links die groben Pinselstriche des Abstrakten Expressionismus hervorstechen. „Hochkunst“ und DJ-Culture, wer stört hier wen?

Beide Häuser in Hamburg und Hannover haben sich gemeinsam zur ersten umfassenden Retrospektive des 2002 bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückten Malers entschlossen. Weil sein Werk „in der gegenwärtigen Kunstsituation eine Orientierung“ geben könnte, wie es Robert Fleck als Leiter der Deichtorhallen zur Eröffnung verkündet. Auch Kestner-Direktor Veit Görner redet am nächsten Abend in Hannover viel in Superlativen, wenn er von „dieser sensationellen Malerei“ schwärmt, die den 1965 in Luxemburg geborenen, in Stuttgart ausgebildeten und am Ende zwischen Berlin und Los Angeles pendelnden Majerus „zum Ausnahmekünstler seiner Generation“ gemacht habe.

Dazu passt die rasante Karriere. Mit 28 Jahren hat er seine erste internationale Einzelausstellung 1996 in der renommierten Kunsthalle Basel, drei Jahre später lädt ihn Harald Szeemann zur Biennale nach Venedig ein, wo er die Fassade des italienischen Pavillons mit Wandmalereien als Screensaver verkleidet; 2000 macht er den Kölnischen Kunstverein mit einer Skateboardbahn zur begehbaren Skulptur und 2002 verhüllt er das Brandenburger Tor mit dem Foto eines Sozialbaus als Sinnbild für prekäre Lebensverhältnisse. Allein im letzten Jahr vor seinem tragischen Unfall entstehen genügend Arbeiten, um 2003 die erste posthume Ausstellung im Hamburger Bahnhof ohne eine schwache Stelle zu füllen.

Wenn Majerus ein Bild dann doch nicht gelingt – auch das ist in Hannover zu sehen –, nennt er es „unexpected disaster“ und überlässt das Urteil der mittlerweile begierigen Sammlerkundschaft. Er hat den bösen Humor eines Martin Kippenberger, er weiß, dass Kunst als kapitalistisches Hochglanzprodukt nicht zur Transzendenz, sondern zur Verdinglichung neigt. „What looks good today, may not look good tomorrow“ ist so ein Motto, das in Bildern von Majerus mandalahaft immer wieder auftaucht, allerdings nicht ohne den Zusatz „Now's the time“.

Tatsächlich hat Majerus in dieser permanenten Umarmung des Jetzt einen irren Output von 1.500 Gemälden in zehn Jahren bewältigt. Solche Produktion im Akkord kannte man bislang höchstens von Picasso oder Warhol. Entsprechend geht es Fleck und Görner auch um eine nachträgliche Positionsbestimmung. Schließlich ist Malerei in Deutschland wieder zum hart umkämpften Terrain geworden, bei dem das Feld nicht gänzlich Neo Rauch, Daniel Richter oder dem Leipziger Realismus-Klüngel überlassen werden soll. Auch deshalb sind eine ganze Reihe privater Leihgeber angereist: Man will schon wissen, ob sich die Investition in Majerus gelohnt hat. In Hannover wird das Sammlerehepaar Rudolf und Ute Scharpff von Görner in seiner kurzen Ansprache mit einem Applaus begrüßt. Nicht bloß, weil ihnen mit „Gold“ eine farbenprächtige Comic-Adaption von Majerus gehört, die nun, wie es im Beiblatt heißt, als Teil einer Präsentation „zentraler Hauptwerke seiner Malerei“ gezeigt wird; sondern als gute Freunde des Hauses, versteht sich.

Die museale Würdigung von Majerus kommt in einem günstigen Moment. Nachdem die Rückbesinnung auf deutsche Maltugenden arg überstrapaziert wurde und selbst amerikanische Sammler allmählich satt sind von all der new german Innerlichkeit, erscheinen seine Arbeiten frei vom Muff des Neo-Romantizismus. Plötzlich wird bei Majerus angesichts der unglaublichen Fülle an Ideen, Sujets und Gestaltungstechniken wieder lebendig, was in den neunziger Jahren ohnehin Tagesordnung war: Malen als ein ständiges Mischen und Umschichten von visuellem Material, egal ob aus Geschichte oder Gegenwart. Natürlich nicht ohne einen Hauch von Ironie, geschult an den Moden der Theorie mit ihren pictorial turns und cultural shifts, auf keinen Fall aber im Ringen um irgendeine Identität begriffen.

Bei Majerus liegt die Faszination noch immer im ausufernden Spiel mit Zitaten, in der schnellen Abfolge von seriellem Patchwork-Pop und dem kalkulierten Einsatz kunsthistorischer Verweise: über alle nationalen Eigenheiten hinweg. Mal verleibt er sich De-Kooning-Wischer ein, mal imitiert er tröpfchenweise Pollock; dann wieder nimmt er sich osteuropäischen Märchenkitsch vor, den er mit japanischer High-Speed-Manga-Malerei veredelt; und wenn es besonders unübersichtlich werden soll, tobt Majerus sich in so ziemlich jedem Stil der Nachkriegsmoderne aus und nennt das Ergebnis 1994 schlicht „Sauerei“.

Dabei bleibt, auch das ist Kunst, nichts geheimnisvoll. Unentwegt watet man durch einen bunten Sumpf aus Logos, Billigramsch und Werbeversprechen. Majerus entwickelte eine Freude daran, diese Konsumchiffren in Tableaus der Historienmalerei zu verwandeln. Dann wird Super Mario zum letzten wahren Held der Arbeit, ein digitaler Superstar, mindestens so berühmt wie Marilyn. Später liest man den Namen von Marusha auf einem Bild, und weiß sofort: Da war doch was. Techno und Love Parade, überhaupt all die Flyer der neunziger Jahre mit ihren crazy Typografien, deren nervöse Layouts von Majerus ebenfalls begeistert in die Malerei aufgenommen wurde. Zum Abschied kullert Woody, der Cowboy aus „Toy Story“, mit den Augen, lächelt ein zierlicher honiggelber Bussie-Bär. Es ist der Stupor einer Welt aus lauter veitstanzenden Images, der sich von Hamburg nach Hannover als heiter kreischende Bilderstrecke ausbreitet: eine Endmoräne aus Medienresten und Unterhaltung.

Michel Majerus war, das wird im Rückblick deutlich, selbst eine Art Pac-Man, der Bilder fraß und als raffinierte Malerei wieder aussonderte. Darin unterscheidet er sich von jüngeren Künstlern, die in eher introvertierten, zu Zeichnung, Tagebuch und Bastelei neigenden Arbeiten dem Spektakel in der Kultur aus dem Weg gehen. Man merkt aber auch, dass Gegenwart heute ziemlich einschüchternd wirkt: Einfach ist die Kritik durch Subversion oder gar Umwidmung der Zeichen nicht mehr zu haben. Wer sich mit plakativen Aktionen wie eben jener Brandenburger-Tor-Parodie aus dem Fenster lehnt, läuft schnell Gefahr, als Propagandist in eigener Sache wahrgenommen zu werden. Wie sollte man der Majerus-Bilderflut auch ansehen, dass viele Arbeiten nicht mit großer Geste und diversen Gehilfen in teuren Ateliers entstanden sind, sondern als mühevoll montiertes Stückwerk in besetzten Häusern? Erfolg, zumal mit Outlawtum gepaart, erzeugt Misstrauen. Andererseits, warum nicht?

Dennoch sind bei aller Leichtigkeit, mit der sich Majerus durch das Vokabular des Alltags gezappt hat, auch Fallstricke ausgelegt. Dann schimmert in den überbordenden Parolen und Fun-Szenarien eine beängstigende Ereignislosigkeit auf. Majerus verschleißt Wirklichkeit, indem er sie zum Baustein seiner „progressive aesthetics“ macht. Nichts scheint diesem Prozess der unentwegten Verkunstung zu entgehen: Immer nur Bärchenglück, immer nur Pop-Art-Applikationen oder Comic-Bienen – das lässt die Arbeiten trotz oder gerade wegen der Euphorie im Herstellungsprozess eigenartig trostlos erscheinen.

Manchmal hat Majerus geahnt, in was für einer Tretmühle er sich bewegte. Im Katalog kann man eine Anekdote aus der Zeit in Los Angeles lesen. In einer Mail an seine damalige Freundin schreibt er, wie er auf einer Straßenkreuzung „den idiotentest“ gemacht hat: „links von mir gab es ein leeres großes billboard und rechts von mir eine riesige aufgeblasene ente von van nys car sales. die ampel wurde gleich grün und ich konnte allerhöchstens ein foto machen. ich weiß nicht warum, aber ich habe das weiße billboard fotografiert. ich idiot, und dabei könnte ich mit photoshop jedes blöde plakat weiß machen, aber das mach ich natürlich nicht, das überlasse ich den anderen leuten. jedenfalls habe ich die ente nicht fotografiert und somit den deppentest bestanden“. Für die Ente, würde man ihm heute gerne zurückmailen, gibt es Google. Für weiße Billboards aber auch.

Bis 26. 1. 2006, Deichtorhallen Hamburg; bis 26. 2. 2006, Kestner-Gesellschaft Hannover. Katalog: 29 €