Spielerische Kunst

Über das ideale Zusammentreffen von Zufall und strengem Regelwerk: „Faites vos jeux“ in der Berliner Akademie der Künste am Hanseatenweg

Gerade der zügellosen Energie der Verwüstung galt das Interesse vieler Künstler

VON MARCUS WOELLER

Kunst und Spiel seit Dada. Das klingt nach akademischer Theorie, traditioneller Kunstbetrachtung und waldorfpädagogischer Herangehensweise. Wer mit ähnlichen Assoziationen die Akademie der Künste in Tiergarten betritt und die breite Treppe zur großen Ausstellungshalle im ersten Stock heraufsteigt, sollte sich nach der Eingangstüre direkt nach rechts um die Ecke wenden, den auf einem kleinen Bord bereit liegenden Kopfhörer aufsetzen und zuhören. „Fümms bö wä tää zää Uu, pögiff, kwiiee. Dedesnn nn rrrrr, Ii Ee, mpiff tillff toooo, tillll, Jüü-Kaa? Rinnzekete bee bee nnz krr müüüü, ziiuu ennze ziiuu rinnzkrrmüüüü, Rakete bee bee. Rrummpff tillff toooo?“, blökt Kurt Schwitters’ „Ursonate“ aus den Lautsprechern. Der Charme spontaner und zufälliger Lautäußerung bewirkt eine sofortige Entschlackung des Bewusstseins, befreit von Vorurteilen und lockert. Genau die richtige Einstimmung für den Parcours durch die Kunst des 20. Jahrhunderts, den die Kuratorin Nike Bätzner mit „Faites vos jeux!“ zusammengestellt hat. Er beginnt in den 20er- und 30-Jahren mit konkreter Poesie, den Collagen von Hans Arp und Hannah Höch oder den ironischen Revolten gegen den Kunstbetrieb von Marcel Duchamp. Der Dadaismus verstand sich als die Wiedergeburt der Kunst aus dem Geist des Spiels.

Die historischen Avantgarden, erläutert Bätzner im Katalog zur Ausstellung, entdeckten im Spiel einen Partner, der ähnliche Ziele verfolgt und verwandten Strukturen unterworfen ist. Im Spiel trifft das Chaos des Zufalls auf das mehr oder weniger strenge System eines Regelwerks. Im spielerischen Akt liegt immer auch das subversive Element, starre Regeln zu unterlaufen oder zu modifizieren. Kreatives play und riskantes game liegen dicht beieinander. So kann Spiel schnell zum Ernst werden, wie der mexikanische Künstler Gustavo Artigas in seiner Arbeit „Vive la résistance“ untersucht. Zehn Freiwillige fassen sich an den Händen, der Spielleiter schaltet ein Gerät dazwischen, das elektrischen Strom in die Runde leitet. Wem die Stromschläge zu stark werden, scheidet aus. Aber der Wille zu gewinnen wird stärker als die Angst vor dem Schmerz, und der Wettbewerb muss abgebrochen werden: die verbliebenen fünf Widerständler werden zu Siegern erklärt.

Dieses leider nicht, doch einige Spiele können in der Ausstellung ausprobiert werden. George Maciunas lädt zum Pingpong. Persönliche Technikschwächen spielen keine Rolle, denn die Tischplatte hat auf der einen Seite ein großes Loch, auf der anderen ist sie in der Mitte durchgesägt und nach oben geknickt. Auch die Schläger haben Löcher oder lassen sich durch eingebaute Scharniere umklappen. Wahlweise kann auch mit verbogenen Flaschenbürsten returniert werden. Schach zieht sich als roter Faden durch die Schau. Das autoritär geregelte Spiel der Spiele und die verbissene Ernsthaftigkeit seiner Liebhaber konterkarieren Fluxus-Künstlerinnen wie Takako Saito. Bei ihr sehen alle Figuren gleich aus. Um herauszufinden, ob man Turm und König zur Rochade vertauscht oder einen Läuferangriff startet, müssen die kubischen Holzklötze geschüttelt werden. Der Klang der im Inneren verborgenen Materialien offenbart erst die erlaubten Zugbewegungen. In anderen Varianten benebeln auszutrinkende Likörflakons den nachdenklichen oder verunsichern ablaufende Sanduhren den zögernden Spieler.

Tony Ourslers Puppe lädt nicht zum Liebhaben ein. Achtlos kopfüber in eine Truhe geworfen, schreit sie unvermittelt die Ausstellungsbesucher an. Mal räsoniert sie traurig, mal lockt sie freundlich: „Hello!“ Mittels Videoprojektion haucht Oursler dem eigentlich gesichtslosen Puppenkörper im rosa Taufkleidchen ein beunruhigendes Eigenleben ein. Auch Paul McCarthy beschwört in seiner Performance „Pinocchio Pipenose Householddilemma“ das unheimliche Element des Kinderspiels. Der Marionette ist die Lügennase schon zum roten Rohr geschwollen, obwohl sie doch scheinbar friedlich schläft. Stan Laurel und Oliver Hardy leben ihren Traum aus, noch einmal Kind sein zu dürfen. In einer Doppelrolle spielen sie im Streifen „Brats“ sowohl Kinder als auch deren Eltern. Im Slapstick bedeutet das natürlich die humorvolle Katastrophe.

Gerade der zügellosen Energie der Verwüstung galt das Interesse vieler Künstler. Jean Tinguely baute riesige Maschinen, die ihren Zweck nur in der krachenden und rauchenden Selbstzerstörung fanden. Roman Signer lässt raketenbetriebene Fahrräder durch die Luft fliegen, bis sie an einer Mauer zerschellen. Die Ästhetik des Zufalls, die von den Surrealisten noch ganz zart und subtil in Zeichnungen und Fotografien zum Ausdruck gebracht wurde, vollendet sich so in der radikalen Schönheit der Explosion. Man muss sich nur die dreißig Minuten Zeit für das Video „Der Lauf der Dinge“ nehmen. Mit Hilfe von Trockeneis, Säure und Benzin, Feuerwerkskörpern und Seifenschaum, brennenden Reifen und umstürzenden Leitern setzt das Künstlerduo Fischli & Weiss nicht nur eine unwiderstehliche Kettenreaktion der Destruktion in Gang, sondern vor allem ein bleibendes Zeichen für einen spielerischen Kunstanspruch. Denn wer nicht spielt, kann nur verlieren.

Bis zum 1. Januar, Katalog 25 € (Hatje Cantz Verlag)