Von innen nach außen

Über Rot-Grün spricht Steinmeier wie ein Chronist, nicht wie ein Beteiligter

VON BETTINA GAUS

Journalisten drängen sich vor den Mikrofonen. Die erste deutsche Bundeskanzlerin ist ins Nato-Hauptquartier nach Brüssel gekommen, und das Interesse ist groß. An ihr und nur an ihr. Nicht an jenem weißhaarigen Herrn, der unauffällig am Rand steht und von dem viele Korrespondenten vor Ort nicht einmal wissen, um wen es sich handelt. Es handelt sich um den deutschen Außenminister. Frank-Walter Steinmeier.

Die Beziehungen zwischen Deutschland und den USA könnten „weiterentwickelt“ werden, sagt die Bundeskanzlerin jetzt, und die Nato müsse als der Ort gestärkt werden, an dem wichtige politische Fragen zwischen Verbündeten zuerst besprochen werden. „Ich meine, dass man erst dann, wenn man in der Nato keine Einigung erzielt, eigene Wege gehen sollte.“

Das ist ein bisschen umständlich und sehr diplomatisch ausgedrückt, aber unmissverständlich. In höflichem Ton hat Angela Merkel soeben ihre Richtlinienkompetenz auch im Bereich der Außenpolitik betont und zugleich ihre Kritik am Kurs der abgewählten rot-grünen Koalition gegenüber Washington erneuert. Ungeachtet der von ihr beschworenen Kontinuität in der deutschen Außenpolitik. Und obwohl auch sie keine deutschen Soldaten in den Irak schicken möchte.

Dem ehemaligen Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier kann nicht gefallen, was Angela Merkel gerade gesagt hat. Kritik an der alten Regierung hört er ganz und gar nicht gerne. Aber das sieht man ihm nicht an. Unbeirrt freundlich schaut er unbestimmt ins Nichts. Nur die Finger seiner hinter dem Rücken verschränkten Hände verknoten sich noch ein wenig fester.

Es ist klug, dass der neue Außenminister sein Mienenspiel kontrolliert. Selbst wenn an diesem Tag kaum jemand Notiz von ihm nimmt. Schließlich wird sich das schon bald ändern. Wenn Steinmeier keine ganz groben Schnitzer macht, dann ist er bald einer der populärsten Politiker der Bundesrepublik.

Das sind Außenminister immer. Ihre Fernsehauftritte erwecken den erfreulichen Eindruck, deutsche Gäste seien weltweit hoch geschätzt. Das gefällt den Zuschauern. Weniger gefällt ihnen Zank und Streit innerhalb einer Regierung. Deshalb wäre es gar nicht gut, wenn Aufnahmen in den Bildarchiven lagerten, die einen missmutigen Steinmeier schon am ersten Tag seiner Amtszeit zeigten.

Diese Aufnahmen gibt es nicht. Schließlich muss niemand dem 49-jährigen Juristen die Mechanismen politischer Psychologie erklären. Über Jahre hinweg hatte er Gelegenheit, sie aus der Nähe zu studieren. Und er durfte das tun, ohne selbst von einer kritischen Öffentlichkeit beim Lernprozess beobachtet zu werden.

Es gibt in einer demokratisch verfassten Mediengesellschaft nur wenige mächtige Politiker, denen diese Chance geboten wird. Streng genommen war Steinmeier bis zu seiner Vereidigung als Minister natürlich gar kein Politiker. Sondern ein Beamter. Also weisungsgebunden. Nach dem ersten Wahlsieg von Rot-Grün holte Gerhard Schröder ihn als Beauftragten für die Bundesnachrichtendienste ins Kanzleramt. Seit Juli 1999 arbeitete er als Chef dieser Behörde.

Eine einflussreichere Position kann ein Staatssekretär nicht bekleiden. Und dennoch: Wird es für ihn nicht schwer sein, plötzlich den Rollenwechsel hin zum Akteur zu bewältigen? Schließlich fungierte er bislang stets als jemand, der die Richtlinien eines anderen umzusetzen hatte.

Sekundenlang erstarrt Steinmeier. Gewiss werde die Arbeit im Kanzleramt „eher an Umsetzungsstrategien gemessen“. Ungeachtet dessen habe ein großer Teil seiner Tätigkeit aus „konzeptioneller Arbeit“ bestanden. Der eine haben eben „stärker mit Blickrichtung nach außen, der andere mit Blickrichtung nach innen“ gearbeitet: „Diese Rollenverteilung hat fürs Kanzleramt getragen.“

„Rollenverteilung“? Der „eine“ und der „andere“? Hat sich der bisherige Chef des Bundeskanzleramtes als Nebenkanzler gesehen? Hielt er sich für den wahren Herrscher? Bei jedem anderen als bei Frank-Walter Steinmeier wäre dieser Eindruck unabweisbar. Bei ihm sind ausgerechnet diese Äußerungen eindeutiger Ausdruck seiner Loyalität gegenüber dem bisherigen Bundeskanzler. Was immer der gewollt und getan hat: Sein einstiger Kanzleramtschef nimmt es auch auf seine Kappe. Vom Kosovokrieg bis hin zur Agenda 2010.

„Meine enge Umgebung besteht aus zwei Leuten“, hat Schröder einmal gesagt. Einer dieser beiden war Steinmeier. Der hatte sich gleich nach der Promotion 1991 – erfolgreich – in der niedersächsischen Staatskanzlei beworben. Die Chemie zwischen ihm und dem damaligen Ministerpräsidenten stimmte von Anfang an. „Du passt zu uns“, habe Schröder im ersten Gespräch gesagt, erzählt Steinmeier.

Es muss ein großes Glück für einen jungen Beamten sein, wenn er gleich zu Beginn seiner Laufbahn an einen Vorgesetzten gerät, den er mag und respektiert. Der dann auch noch Karriere macht, und der im Laufe der Jahre zu einem engen Freund wird. Wärme und Wehmut sind unüberhörbar, wenn Steinmeier von Schröder spricht. Am Samstag ist er nach Hannover gefahren. Er wollte dabei sein, als der Kanzler mit dem großen Zapfenstreich verabschiedet wurde. „Ich darf für mich sagen, dass mich das schon sehr berührt hat.“

Es scheint Steinmeier schwer zu fallen, sich von diesem Lebensabschnitt zu trennen. Er spricht von „Neugier“ auf das neue Amt. Aber sein Büro im Kanzleramt sieht noch am Umzugstag so aus, als werde alles so weitergehen wie bisher. Unterschriftenmappen und Papiere auf dem Schreibtisch, eine Auswahl von Säften neben der Ledergarnitur für Besucher. „Die müssen wir noch austrinken.“ Damit sie nicht den politischen Gegnern von gestern in die Hände fallen? „Damit wir sie in den Altglascontainer entsorgen können.“ Alltag. Bloß kein Abschied vom Alltag. Fertig gepackte Umzugskartons stehen verschämt in einer Ecke des Raumes.

Eine Achterbahnfahrt dürfte die Begleitung von Gerhard Schröder in den letzten Jahren gewesen sein. Worauf ist Steinmeier in dieser Zeit persönlich stolz? Es werde ja derzeit der Versuch unternommen, die Bedeutung der sieben rot-grünen Jahre zu nivellieren, sagt er. Oder sie gar als nachteilig für die Entwicklung zu brandmarken. „Ich finde das ganz und gar nicht.“

Dann erwähnt er die Entschädigungen für Zwangsarbeiter und den Umbau der Sozialsysteme. „Die Agenda 2010 hat ja nicht erst 2003 angefangen.“ Die Einrichtung des Postens eines Kulturministers habe „etwas kreativen Wind in dieses Haus geweht“. Ohnehin sei versucht worden, das Kanzleramt „ganz körperlich zu öffnen“. Es habe Tage der offenen Tür gegeben, Besuchergruppen seien durch das Gebäude geführt worden. „Pausenlos.“

Was hat all das mit ihm persönlich zu tun? Über die Ära Rot-Grün spricht Steinmeier wie ein Chronist, nicht wie ein Beteiligter. Das findet er ganz richtig so. Als Chef des Kanzleramtes „sollten Sie sich nicht so wichtig nehmen, dass Sie sich als eigenes Projekt neben die Projekte dieser Regierung stellen“. Der Wechsel in das Amt das Außenministers wird vielleicht doch größer sein, als der Neuling selbst das derzeit für möglich hält.

Immerhin verfügt er mittlerweile über einige nützliche Techniken. Vor allem als Moderator verstand er seine Aufgabe im Kanzleramt, und seine Fähigkeit zum Interessenausgleich wird denn auch gerühmt. Von Freund und Feind. Fast gleichermaßen. Um Gesichtswahrung aller Beteiligten gehe es in solchen Fällen in erster Linie, sagt Steinmeier. Und darum, Konflikte lange vor dem Zeitpunkt zu erkennen, zu dem sie öffentlich sichtbar werden. Mit dem Atomkonsens, der inneren Sicherheit und der Arbeitsmarktpolitik hat er sich in den letzten Jahren befasst. Um nur einige Beispiele zu nennen.

Was hat er falsch gemacht? Steinmeier redet nicht über Inhalte, wenn er über Fehler spricht. Sondern über Kommunikationsdefizite. Für einen Außenminister ist das eine vermutlich hilfreiche Weltsicht. Aber wird das reichen? Und kann ein fast 50-jähriger Überzeugungstäter seine Loyalität noch umpolen? Weg von einem Freund und hin zu einer Gegnerin?

Abwarten. Es mag helfen, dass der neue Außenminister nie ein Radikaler gewesen ist. Geboren 1956, zu spät, um sich noch als Teil der 68er-Bewegung zu fühlen. Ein Westfalenkind: Geprägt von einer ländlichen, streng protestantischen Umgebung. Der Vater war Tischler, die Mutter arbeitete in einer Pinselfabrik. Der Bruder ist Schlosser. Frank-Walter Steinmeier ist aufgestiegen aus dem Kleinbürgertum. Dessen pragmatische Wurzeln reichen meist tief.

Auch Steinmeier scheint sie weder ausreißen zu können noch zu wollen. Juso sei er in seiner Jugend gewesen, nicht Mitglied einer K-Gruppe. „Die gab es bei uns gar nicht.“ Die soziale Frage habe ihn politisiert. Und die Ostpolitik: Teile der Verwandtschaft waren aus Breslau vertrieben worden. Aber die Mutter habe „den Kampf um das verlorene Gestern nicht geführt.“ So konnte er – ganz ohne schlechtes Gewissen – die Ostverträge für richtig halten. Was er bis heute tut.

1977 ist Steinmeier in die Partei eingetreten. Aber ein Mandat im Bundestag hat der erste sozialdemokratische Außenminister seit Willy Brandt bis heute nicht, und auch dem Parteivorstand gehört er nicht an. Schlechte Voraussetzungen für einen, der vielleicht – vielleicht – der nächste Kanzlerkandidat der SPD wird.

Davon will er aber nichts hören. „Ich rechne fest damit, dass Matthias Platzeck der nächste sozialdemokratische Kanzlerkandidat sein wird.“ Der muss allerdings auch noch ein wenig üben. Und wenn sich erweist, dass er es nicht kann? Darüber will Steinmeier nicht einmal nachdenken. Da endet jedes Interview. Platzeck wird es. Sagt er.

Wer sich beim neuen Außenminister nach seinem Privatleben erkundigt, den schaut er an, als ob man sich gerade ziemlich daneben benehme. Dann liefert Steinmeier doch ein paar Fakten. Dürre: verheiratet seit zehn Jahren, eine neunjährige Tochter. Die Frau arbeitet halbtags als Verwaltungsrichterin. Hobbys? Wandern in den Dolomiten. Hier enden private Auskünfte. Wenigstens in der Reaktion auf derlei Fragen dürfte er sich mit Angela Merkel besser verstehen als mit Gerhard Schröder.