Energiehunger frisst Umweltschutz

Der Ölriese Shell verstößt mit dem weltgrößten Öl- und Gasförderprojekt „Sachalin II“ gegen Umwelt- und Sozialstandards. Und es gefährdet die letzten Grauwale. Heute entscheidet die Europäische Entwicklungsbank, ob sie das Projekt mitfinanziert

VON TARIK AHMIA

Der Mineralölkonzern Shell will trotz massiver Umweltrisiken an einem 20-Milliarden-Dollar-Geschäft im äußersten Osten Sibiriens festhalten. „Sachalin II“ heißt das Projekt, das den Bau von zwei Plattformen im Ochotskischen Meer vor der ostsibirischen Insel Sachalin mit jeweils 800 Kilometer langen Pipelines sowie einer riesigen Gasverflüssigungsanlage vorsieht. Die Ausbeutung der riesigen Öl- und Gasvorräte könnte zu einem ökologischen Debakel werden: Das Vorhaben bedroht die letzten 100 westpazifischen Grauwale und die Fischbestände Sachalins.

Der Fischfang gehört bislang zu den wichtigsten Einnahmequellen der Bevölkerung auf Sachalin. Schon die erste Ausbaustufe des Projekts – „Sachalin 1“ – habe in der Region seit 1998 zu einem Rückgang des Fischfangs um bis zu 70 Prozent geführt, berichtete der World Wildlife Fund (WWF) in einer gestern veröffentlichten Studie. Vor allem der Lärm von den Ölplattformen und auslaufendes Öl gefährden Tiere und Pflanzen. Insbesondere die Grauwale reagieren empfindlich auf Lärm. Die Tiere orientieren sich mit Schallwellen. Forscherteams registrieren seit 1999 vermehrt abgemagerte Grauwale.

Shell stellt sich sich den Kritikern gegenüber weitgehend taub. Zu wichtig ist das Förderprojekt für den britisch-niederländischen Konzern, der sich Öl- und Gasverkäufe im Wert von 45 Milliarden US-Dollar verspricht. „Das Gasvorkommen von Sachalin entspricht etwa der Menge Gas, die Russland über einen Zeitraum von fünf Jahren nach Europa liefert“, erklärte Ian Craig von Shell.

Doch der Finanzierung der neuen Ausbaustufe Sachalin II steht noch ein kritischer Moment bevor: Heute entscheidet die Europäische Entwicklungsbank (EBRD) darüber, ob sie die Kredite für das Vorhaben bewilligt. Der Beschluss hat weitreichende Folgen, weil er als Türöffner für weitere Kredite internationaler Großbanken gilt. Die potenziellen Geldgeber stecken aber in einem Dilemma: Nach allen bisherigen Erkenntnissen widerspricht das Großprojekt den ethischen Richtlinien für Großinvestitionen, auf die sich viele Großbanken verpflichtet haben.

Die so genannten Äquator-Kriterien definieren in zehn umweltpolitischen und sozialen Bereichen ethische Mindeststandards (siehe taz vom Wochenende). Auch die öffentliche EBRD ist gemäß ihrer Statuten verpflichtet, Investitionsentscheidungen an Nachhaltigkeitskriterien auszurichten.

Ihre heutige Entscheidung wird mit besonderer Spannung erwartet: Sie hatte dem Ölkonsortium bereits im Juni einen schweren Schlag versetz. „Derzeit steht das Projekt nicht im Einklang mit unserer Unternehmenspolitik“, sagte ein EBRD-Sprecher damals. Die Bank fror den Kreditantrag von Shell bis auf weiteres ein. Diese Entscheidung steht nun zur Disposition.

Umweltexperten fordern die Entscheider nun auf, den Kreditwunsch erneut abzulehnen: „Zwischen den Anforderungen der Europäischen Entwicklungsbank und dem tatsächlichen Verhalten von Shell liegen Welten“, sagte WWF-Experte Volker Homes. Der WWF sehe in Sachalin II einen Prüfstein für die Einhaltung der Äquator-Kriterien.

Die Nachhaltigkeitsstandards fordern, dass alle Umweltverträglichkeitsprüfungen vor dem Baubeginn abgeschlossen sind. In Sachalin, das in einer der seismisch aktivsten Regionen der Welt liegt, laufen Bau und Prüfung jedoch parallel. „Der WWF fordert, dass Shell seine Arbeiten auf Sachalin unterbricht und eine unabhängige Umweltverträglichkeitsprüfung durchführen lässt und für die Schäden aufkommt“, sagte Homes.

Shell hat sich bisher auch geweigert, die in den Äquator-Kriterien geforderten ethnologischen Folgen des Projektes zu untersuchen. Dass aber zumindest mit ihrem Widerstand zu rechnen ist, haben die Ureinwohner Sachalins in jüngster Zeit mehrfach demonstriert. Bei minus 30 Grad kamen sie immer wieder zu Aktionen und Straßenblockaden zusammen, um gegen das Großprojekt zu protestieren.

„Shell scheint darauf zu setzen, dass sich niemand für eine abgelegene Insel im Westpazifik interessiert“, so Homes. „Seit der letzten Kreditablehnung hat Shell keine Fortschritte gemacht. Stattdessen wurden Lachs-Laichplätze zerstört, fast 200.000 Menschen wurde die Lebensgrundlage entzogen.“