Warten müssen

Die starren uns an, wir starren zurück, so ist das Stück: Die Gruppe VolkArt zeigt im HAU Theater aus dem Frauengefängnis – „Welt in Scheiben“

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Alles kann sich ändern. Mit zehn Frauen hat das Kollektiv VolkArt an seiner vierten Produktion in der Justizvollzugsanstalt für Frauen zu arbeiten begonnen, bei der letzten Probe vor der Premiere im HAU 2 sind fünf dabei. Von zweien werden nur ihre Stimmen mitgenommen, ihr Gesang, gebannt auf Band. Einige sind abgesprungen, weil Therapie und Verhandlungen schon genug Stress brachten, zwei dürfen nicht raus zur Premiere, dafür spielen andere mit, die schon entlassen sind, aber dem Theaterkollektiv die Treue halten.

Wie baut man also einen Probenprozess, der bis zuletzt auf solche Unwägbarkeiten reagieren kann, wie baut man ein Stück, dass bis zuletzt offen ist für Unvorgesehenes. Für das Kollektiv VolkArt, das seit 2003 kontinuierlich in der JVA für Frauen, in Lichtenberg und Neukölln, gearbeitet hat, ist das die große Herausforderung, den ergebnisoffenen Prozess zuzulassen. VolkArt, das sind vor allem Arthur Albrecht (Schauspieler) und Thomas Lilge (Autor und Musiker), die erstaunlich entspannt in die letzte Probe in der JVA Lichtenberg gehen. „Siehst du wieder verwirrt aus“, begrüßt eine der jungen Frauen den Spielleiter Arthur und zauselt seine Haare. Er verkörpert tatsächlich perfekt den Zerstreuten, kaum merkt man, wie er die Probe dirigiert. Nie scheint ihn das Vertrauen zu verlassen, dass im Moment der Premiere im HAU (am morgigen Dienstag) die Frauen voll da sind: „Das war bisher noch jedes Mal so.“ Jetzt nuscheln sie manchmal noch ein bisschen, die Vorstellung macht sie nervös, in die Gesichter so vieler Zuschauer zu sehen. Sie fürchten die Pausen und werden zu schnell. „Macht euch keine Sorgen“, sagt Sandra, die Assistentin, „so interessant, wie ihr ausseht, werden die Zuschauer euch fasziniert anstarren.“ „Die starren uns an, und wir starren zurück, so ist das Stück“, sagt Arthur, und deshalb lässt er den Abend mit einem optischen Spiel beginnen, einem Punkt, der auf eine Leinwand projiziert wird und verschwindet, wenn man ihn fixiert.

Was es an Dialogen, an Szenen, an reflexiven Textpassagen und Liedern gibt, entstand im Austausch zwischen den Mitspielerinnen und VolkArt. Kurze Passagen von Foucault, Rosseau und Guy Debord werden zitiert und stehen wie fremde Skulpturen im Raum. Sie reflektieren die Situation des Eingeschlossenseins und der Strafe, aus der das Stück hervorgeht, und bleiben doch abstrakter als alles andere. Szenen am Anfang und Ende beschäftigen sich mit den unterschiedlichen Perspektiven der Fern- und der Nahsicht auf das Leben: Sie wirken ganz leicht und machen doch etwas Erstaunliches, nämlich den Zustand des Wartenmüssens und Ausgeschlossenseins in einen der Zeit für Betrachtung umzumünzen.

Es gibt Träume von der Macht, andere Menschen mit der Fernbedienung ein- und ausschalten zu können und ihre Emotionen zu programmieren; es gibt Momente der Gefahr und Verunsicherung, wenn Aggressionen ausbrechen und die Grenzen verwischt werden, was gespielt ist und was nicht; und es gibt die Augenblicke der Flucht, wo Nacht und Traum und Dunkelheit die Mauern verschwinden lassen und das Weltall sich öffnet. Hinter all dem weiß man einen Alltag, in dem genau diese Faktoren – Macht, Verunsicherung, Aggressionen und das Freihalten von inneren Räumen – eine große Rolle spielen. Aber die Form ist nie naturalistisch oder exhibitionistisch. Das Stück drückt auch nicht auf die Moral. Niemand generiert sich als Opfer. Auch wenn sie Zweifel an der sinnvollen Funktion des Strafvollzugs äußern und mit quietschenden Fingernägeln an dem Schriftzug „Justiz“ kratzen.

Für den Wunsch nach dem öffentlichen Auftritt, dem eine interne Premiere im Knast selbst folgt, hat Matthias Lilienthal VolkArt das HAU als Dach geboten. In den HAU-Theatern ist das Interesse an der Arbeit mit Laien und am Alltag auf der Bühne groß, das zeigen die Projekte von Rimini-Protokoll oder X-Wohnungen. Der Suchscheinwerfer des Theaters kreist, und irgendwie wird dabei ein Ehrgeiz von Balzac’schem Ausmaß spürbar, noch einmal ein Panorama unserer Zeit herzustellen. Dabei geht es nicht nur um die Öffnung in verschiedene Milieus und den Hunger nach Wirklichkeit; sondern auch darum, ein breites Spektrum an Instrumenten zu entwickeln, auf die Wirklichkeit zuzugreifen. Auch wenn man dafür in Kauf nehmen muss, nicht genau vorher zu wissen, mit wie viel Frau und Mann die Wirklichkeit letztendlich anrückt.

„Welt in Scheiben“, am Dienstag,29. 11., im HAU 2, um 20 Uhr