Aus der Gruft in lichte Höhen

Die zutiefst rätselhaften Antony & The Johnsons spielten am Sonntag in der ausverkauften Berliner Volksbühne

Antony Hegarty hat die bezaubernde Ausstrahlung eines schüchternen dicklichen Mädchens, das gerade einer staubigen Gruft entstiegen ist. In dunkler großräumiger Kleidung schlich er am Sonntagabend in der ausverkauften Volksbühne im Halbdunkel stumm ans Piano, gefolgt von seiner sechsköpfigen Band, auch unter dem Namen The Johnsons bekannt. Der New Yorker Sänger eröffnete den Abend mit „You Stand Above Me“ einem Lied über Tod und Unterwerfung, das bruchlos in den Titel „My Lady Story“ überging, der dank Zeilen wie „My lady story / Is one of annihilation / My lady story / Is one of breast amputation“ immer noch ein bisschen sprachlos macht.

Es war bislang ein gutes Jahr für Antony and The Johnsons. In England wurde sein großartiges Album „I Am A Bird Now“ mit dem Mercury Prize bedacht, dem wichtigsten britischen Schallplattenpreis, die Fachpresse ist weltweit voll des Lobes und auch beim Publikum ist der Zuspruch erheblich – was für einen transsexuellen Künstler, den man sich als eine zutiefst rätselhafte Mischung aus Nina Simone, Lou Reed, Georgette Dee und Montserrat Caballé vorstellen muss, nicht alltäglich ist. Von all den merkwürdigen Stars, die im Windschatten von Rufus Wainwright in den letzten Monaten zu Bekanntheit kamen – Coco Rosie, Devendra Banhart, Joanna Newsom – ist er zweifellos der merkwürdigste.

Tatsächlich ist er eigentlich der erste nennenswerte Sänger, der das Thema Transsexualität aus der Ich-Perspektive beleuchtet und dabei vollkommen auf Scherze verzichtet: „One day I’ll grow up, I’l be a beautiful woman / One day I’ll grow up, I’ll be a beautiful girl / But for today I am a child, for today I am a boy“, singt er in „For Today I Am A Boy“, wobei er sich mit geschlechtslos warmer Stimme serpentinengleich von den tiefsten Tiefen in die lichtesten Höhen schraubt. Live neigt er dazu, diesen Effekt mit kreisförmigen Bewegungen des Körpers zu unterstützen, so dass der Gesang mal laut, mal leise ist, je nachdem, wie weit er sich gerade vom Mikrofon entfernt hat. Dabei werden die Worte gedehnt, verschluckt und verfremdet, doch inhaltlich macht das keinen Unterschied. Dass er keine allzu erfreulichen Dinge verhandelt, verrät schon der Klang seiner Stimme.

Vielleicht hat man erwartet, dass Antony and The Johnsons ihrem Werk live etwas mehr Druck verpassen, doch das Gegenteil war der Fall. Trotz Piano Streichern, Akkordeon, Akustikgitarren, Bass und Schlagzeug arbeiteten sie sich gerade mit so viel Energie durchs Repertoire, dass die Stücke nicht in sich zusammenfielen. Die gesamte Band war auf Antonys allerzartestes Pianospiel konzentriert und vermittelte alles in allem den Eindruck eines improvisierenden Kammermusikensembles, das sich Mühe gab, nicht oberhalb der Zimmerlautstärke zu spielen. Nur bei dem im Grunde unschlagbaren „Fistful Of Love“ kam das Schlagzeug voll zum Einsatz – es war das schwächste Stück des Abends.

Zwischen den bekannteren Titeln – und das sind im Grunde alle, die Antony auf seinen bislang zwei Alben veröffentlicht hat – waren unbekannte Stück platziert, kurze Einspieler gewissermaßen, die auf das Kommende vorbereiteten.

Es gab auch Coversongs. Antony spielte eine wunderschön instrumentierte Version von Leonard Cohens „The Guests“, Moondogs „All Is Loneliness“ und Velvet Undergrounds „Candy Says“ als Zugabe. Sehr schön waren auch die Pausen. Machte Antony bei seinem letzten Berliner Konzert noch den Eindruck eines Autisten, wagte er dieses Mal sogar den Kontakt zum Publikum, der vornehmlich aus Blicken und Worten wie „Well …“ oder „So …“ bestand, denen wiederum lange Blicke folgten, die das Publikum sehr erheiterten.

HARALD PETERS