Die letzten Tage von Fengjie

Das Regime verfährt mit dem Volk wie mit den Landmassen: Der chinesische Dokumentarfilm „Yan Mo – Vor der Flut“ über das Staudammprojekt am Jangtse-Fluss

Implizit handelt der Film doch von der Demokratie in China insgesamt: Es gibt sie nicht

Das chinesische Kino erzählt gegenwärtig die Pioniergeschichten einer neuen Moderne. Was in Hollywood der Western mit einer Verspätung von hundert Jahren aufarbeitete, ist in der Volksrepublik China beinahe noch Gegenwart. Unberührte Natur und technokratische Planungen, jahrhundertealte Kultur und rapider Fortschritt produzieren die Anachronismen, an denen sich auch das Kino abarbeitet. Der Dokumentarfilm „Yan Mo – Vor der Flut“ von Li Yifan und Yan Yu ist dafür ein exzellentes Beispiel.

Die „drei Schluchten“ am Jangtse sind der Höhepunkt vieler Touristenreisen nach China. In wenigen Jahren wird sich diese berühmte Flusslandschaft jedoch unwiderruflich verändert haben. Das größte Staudammprojekt der Welt führt zu einer Überflutung zahlreicher Städte und Dörfer, und der Wasserspiegel wird am Ende eine ganze Reihe wichtiger Kulturdenkmäler verschwinden lassen. Eine Stimmung von Aufbruch und Abwehr herrscht in dieser Gegend. Die Menschen versuchen, sich auf die neuen Möglichkeiten vorzubereiten. Der Staat stellt Neubauwohnungen zur Verfügung, die zur Verlosung stehen. In einem riesigen Gemeindesaal sitzen verloren einige Menschen und lassen sich von den Kadern, die auf dem Podium an einem langen Tisch sitzen, den neuen Wohnsitz zuteilen. Dieses Bild ist zugleich Metapher für das Verfahren, mit dem in einem zentralistischen Staat der Fortschritt gesteuert wird. Viele können bereits einziehen, gehen zum Schlafen aber noch in ihr altes Haus, das bereits zum Abbruch bereitsteht. Das anmutig über dem Fluss liegende Fengjie, in ganz China als „Stadt der Poesie“ bekannt, ist besonders betroffen. Hier vor allem haben Li Yifan und Yan Yu ihre Protagonisten gefunden, und sie dokumentieren die letzten Tage von Fengjie.

Mit einfachsten Mitteln erfinden die beiden für China das Direct Cinema neu. Die Regisseure haben ihren Sitz in Chongqing, der Riesenstadt in Zentralchina, die selbst am Jangtse liegt, für die Reisenden aus dem Ausland aber meist nur noch als Endstation einer wildromantischen Reise auf dem Programm steht. Von Chonqing aus erkundeten Li Yifan und Yan Yu die große Menschenverschiebung, die vor Ort zahlreiche Konfliktfälle mit sich bringt. Vielfach filmen sie einfach nur die chaotischen Vorsprachen bei den Beamten, die verzweifelt oder einfach nur stur auf ihre Listen und Statistiken starren, auf denen die individuellen Geschichten vergleichbar und berechenbar erscheinen sollen. Es gibt für jeden Fall eine Kompensation, die aber lächerlich gering ist angesichts der Veränderungen in der sozialen Struktur.

Besonders interessant ist der Fall einer christlichen Gemeinde, deren Kirche unter Wasser kommen wird. Die Auseinandersetzung mit der Bürokratie erweist sich als profunde Prüfung für den Glauben. Das Gemeindeleben leidet unter den harten Auseinandersetzungen, zugleich muss mit den Beamten aber ganz profan und pragmatisch verhandelt werden, denn es geht ja in erster Linie um Geld. Die Gläubigen gehören überwiegend einer besser situierten Schicht an. Sie haben nichts zu tun mit den Lastenträgern am Fluss, die wie Bettelarbeiter leben, oder mit den vielen Alten, denen ein kleines Lebenswerk weggenommen wird. Obwohl es in „Yan Mo“ in erster Linie um dieses konkrete Projekt geht, handelt der Film doch implizit von der Demokratie in China insgesamt: Es gibt sie nicht. Das Regime verfährt mit dem Volk wie mit den Landmassen. Die Bürokraten schaufeln alles weg. Wenn der Wasserspiegel sich über dem Jangtse geschlossen haben wird, dann wird „Yan Mo“ immer noch vom Leben berichten, das darunter verloren ging. BERT REBHANDL

„Yan Mo – Vor der Flut“. Regie: Yan Yu, Li Yifan, Dokumentarfilm, China 2005, 150 Min.