In der Herde der Pferde

Das Münchner Lenbachhaus widmet Franz Marc eine große Retrospektive. Die zeigt unter anderem, dass ohne die Museumsbesucherinnen ab fünfzig, gebildet, belesen, gelangweilt, die Freizeit dem Schönen und dem Gespräch darüber widmend, kein Ausstellungsbetrieb funktionieren würde

Ohne die jahrelange sorgfältige kunsthistorische Begleitarbeit wäre die Retrospektivenicht möglich gewesen

VON IRA MAZZONI

Es ist ein Tuscheln und Raunen, Strömen und Harren, Hören und Starren: „Siehst du das Tier?“ „Du etwa?“ „Nein, ich auch nicht.“ Schweigen, schauen, forschen, um in schwellende Farben und splittrige Strukturen vorzudringen wie in einen Dschungel: Das Suchbild, die „Abstrakten Formen II“, ein Spätwerk von Franz Marc, setzt sich allenfalls noch aus Tier-Kürzeln zusammen. 1914 hatte der Künstler endgültig das Naturbild „zerschlagen“, „um die mächtigen Gesetze, die hinter dem schönen Schein walten, zu zeigen“.

Das Lenbachhaus und mehr noch der unterirdische Kunstbau sind derzeit Auftriebsplätze für Kunstsinnige. 150.000 Besucher, in der Mehrzahl Besucherinnen, haben in zwei Monaten die Franz-Marc-Retrospektive besucht. Dass die Jubiläumsschau, die mit 100 Gemälden und 145 kleineren Arbeiten und Skizzen etwa die Hälfte des Gesamt-Oeuvres umfasst, nicht mit endlosen Schlangen rund um den Königsplatz Schlagzeilen macht, liegt an der professionellen Logistik: Die schmalen Kassen der städtischen Galerie wurden einfach geschlossen. Stattdessen leuchten nun zwei weiße Plastik-Prismen auf den Platzzwickeln hinter den Propyläen. Auf der Polycarbonat-Fassade des temporären Besucherbüros bockt eine gelbe Kuh. Das Entree zum Museumsshop auf der anderen Straßenseite wird von einem blauen Fohlen flankiert.

Mit diesen ephemeren Bauten des erst im Juni gegründeten Architekturbüros Palais Mai und der Grafik von Thomas Meyfried gelingt es erstmals, das Lenbachhaus und den im Zwischengeschoss der U-Bahn-Station untergebrachten Kunstbau stadträumlich zu verbinden und die Besucherströme zu lenken. Erst in die altehrwürdige Künstlervilla und die Schatzkammer des Blauen Reiters, denn dort wird gezeigt, wie Franz Marc ab 1909 über naturalistisch erdenschwere und impressionistisch luftige Studien zu seinem Thema fand: springende Hunde, schlafende Katzen, weidende Pferde. Es gehört zur selbstverständlichen Ausstellungspolitik des Hauses, die Stärken der Sammlung hervorzuheben. So sind die intensiv farbigen Säle mit den Werken von Kandinsky und Münter, Macke, Klee und Jawlensky im Ausstellungs-Parcours integriert. Dort, wo sonst die populären Meisterwerke Marcs hängen, etwa „Blaues Pferd I“ oder „Tiger“, da sind andere Bilder aus dem Freundeskreis nachgerückt. Dabei entdeckt man plötzlich die dicht gewebten Breitwand-Vogelbilder von Jean Bloé Niestlé aus dem Jahr 1910. Erst in der Gleichzeitigkeit der Werke wird Marcs Radikalität bewusst.

Die Rasanz seiner nur zehn-jährigen Entwicklung zum exzeptionellen Tiermaler wird dann im Tunnelbogen des Kunstbaus überdeutlich. Auf der bunten Augen-Weide sind sie alle versammelt – die Kühe und Stiere, die roten und die blauen Pferde, die Rehe und Katzen, der Tiger und die Affen. Ikonen des Ursprünglichen, in sich ruhend, abgeschlossen von der Menschenwelt, eins mit dem Bildraum der reinen Farbe und der Form. „Ich fand schon sehr früh den Menschen als ‚hässlich‘, das Tier schien mir schöner, reiner“, notierte Marc. Solcher Zivilisations-Pessimismus kommt beim Publikum gut an, genauso wie die Emotionalisierung der abstrakten Kunst.

Marcs Werk ist anders als die seines Freundes Kandinsky eine Herzensangelegenheit. Dabei nutzt er nicht nur assyrische und asiatische Vorbilder, sondern alle mit dem Abbildcharakter von Kunst brechenden Avantgarden der Zeit: Nach den Fauves entdeckt er den Kubismus und Delaunays Orphismus. Schnell lässt sich Marc auch vom italienischen Futurismus inspirieren, seine Motive immer dichter in kosmische Gitter einzubinden.

Daneben gibt es auch Holzschnittsplittriges nach Art der Expressionisten. „Das arme Land Tirol“, ein Weltendebild aus dem Jahr 1913 (Guggenheim Museum New York) sprengt jedes Marc-Klischee. Nur auf Basis der eigenen, starken Sammlung kann solch eine Gesamtschau gelingen. 60 Prozent der ausgestellten Gemälde, Skizzenbücher, Postkarten und Kleinplastiken sind Eigentum des Lenbachhauses. Aufgrund der jahrelangen Arbeit an dem dreibändigen Werkverzeichnis gelang es der Kunsthistorikerin Annegret Hoberg und ihrer Mitarbeiterin Isabelle Jansen, alle Eigentümer der heute noch existierenden Marc-Werke zu ermitteln. Ohne das Forschungsprojekt, ohne die Kontakte zu Institutionen wie Privatpersonen wäre diese Ausstellung undenkbar.

Das muss allen Politikern, die gerade in diesem Bereich die Etats der Museen zusammenstreichen, deutlich gesagt werden. Dass die städtische Galerie im Lenbachhaus die Versicherungssummen der hochkarätigen Leihgaben nicht selber tragen kann und dass der nachbarschaftlich angesiedelte Energieversorger Eon nicht nur beim Marketing half, sondern auch die Ausfall-Bürgschaft übernahm, darf nicht unerwähnt bleiben. Die Ausstellung muss bis zum 8. Januar mehr als 250.000 Besucher anziehen, um erfolgreich zu sein. Erst dann liegt man in der Gewinnzone, erst dann können auch weniger populäre Ausstellungsvorhaben profitieren.

Dabei rechnet das Museum fest mit den Schulklassen, für die es Sonderöffnungszeiten in den Morgenstunden gibt, und mit den Frauen, ohne die überhaupt kein Ausstellungsbetrieb mehr funktionieren würde. Frauen ab 50, gebildet, belesen, gelangweilt, die Freizeit dem Schönen und dem Gespräch darüber widmend, sind die wahren Förderer des museal Expositionellen. Dank den Hörsälen, die bisher allen offen standen, dank den Bildungswerken und Volkshochschulen für ihre Führungsangebote und Vortragsreihen, dank den Kunstlehrern der Oberstufen, die mit den Jugendlichen auch die Mütter inspirierten, dank den Museumspädagogen. Ohne ihr jahrelanges Engagement gäbe es die zuverlässige Gemeinde der Frauen nicht. Nur eins bleibt merkwürdig: Während alle zu Marc drängen, sind andere Museen und Ausstellungshäuser nahezu leer. Allein das Einmalige lockt. Die Franz-Marc-Retrospektive, größer als die legendäre Gedächtnisausstellung 1916, wird nur in München gezeigt.

Bis 8. Januar, Katalog (Prestel Verlag) 28 €