Die Mauerspringer

Ein Volk, zwei Völker, kein Volk? Einfach ist es nicht, aber die israelisch-palästinensische Künstlergruppe „Artists without Walls“ probt neue Formen des Protests und der Kooperation

VON CHARLOTTE MISSELWITZ

Palästinensische Jungs winken israelischen Kindern auf den Schultern ihrer Eltern. Je später die Stunde, desto größer der Andrang und das Gewinke auf beiden Seiten der Mauer. Kommunikation durch eine sechs Meter hohe Betonwand, und das auch noch an der Grenze von Israel und Palästina? Die Künstlergruppe „Artists without Walls“ hat Kameras in der Nähe von Jerusalem so installiert, dass die jeweils andere Seite filmisch auf die Mauer projiziert werden kann. Der Effekt ist verblüffend: Beide Welten scheinen für eine Weile transparent.

Für Oren Sagiv ist das eine neue Form der Interaktion. Der israelische Architekt und Künstler sitzt in einer Bar in Tel Aviv. Dem Outfit nach könnte der 36-Jährige zur Szene der Berliner Mitte gehören. Seine hellen Augen werden dunkel, wenn er an die Zeit vor der Gründung von „Artists without Walls“ denkt: „Irgendwann war ich es leid: Man demonstriert an der Mauer, dann kommt die Polizei, löst alles auf. Das waren eingefahrene Strukturen.“ Es mussten also neue Möglichkeiten des künstlerischen Protestes erkundet werden. Seit 2004 arbeitet Sagiv in dem israelisch-palästinensischen Forum gewaltfreie, kreative Aktionen.

Das Video der Gruppe ist momentan in der Ausstellung „Three Cities against the Wall“ gleichzeitig in Ramallah, in Tel Aviv und in New York zu sehen. Bei der Ausstellungseröffnung in Tel Aviv schoben sich die Massen. 63 Künstler aus drei Nationen haben ihre Kunstwerke als Serien oder Trilogien auf die drei Städte verteilt. Diese Dreierausstellung geht insgesamt auf die Gruppe „Artists without Walls“ zurück: Die Organisatoren in Tel Aviv und Ramallah sind gleichzeitig Mitglieder der Gruppe.

Wichtig sind auch die regelmäßigen Treffen der israelisch-palästinensischen Künstlergruppe, die stets in Ramallah stattfinden. Aus einem einfachen Grund: Die palästinensischen Künstler kommen nicht raus. Rund 40 palästinensische und israelische Künstler, Filmemacher und Musiker unterhalten sich dabei über Kunst und Politik. Es klingt ein wenig hilflos, ist aber das Einzige, was in der derzeitigen Situation bleibt: Die meist jungen, Anfang 30-jährigen Künstler wollen durch den Dialog die Mauer überwinden, im übertragenen wie im physischen Sinne. Auch einige ältere, weithin bekannte Gesichter sind unter ihnen, wie Suleiman Mansour, ein palästinensischer Künstler.

Mittlerweile haben sich aus der großen Gruppe auch Kleingruppen gebildet, die gemeinsame Installationen oder Jam-Sessions planen. Allerdings dauerte es ein halbes Jahr, bis Palästinenser und Israelis eine gemeinsame Basis fanden. Suleiman Mansour meint, unter den Palästinenser gebe es bei einer Kooperation oft die Furcht vor „Kollaboration“.

Der 58-Jährige spricht von drei Sorten von Palästinensern: denjenigen, die prinzipiell mit Israelis zusammenarbeiten; denjenigen, die es zu bestimmten Zwecken tun; und denjenigen, die prinzipiell nicht kooperieren. „Ich gehöre zur mittleren Sorte. Mir geht es um die Aktion gegen die Mauer.“ Oren Sagiv, in Tel Aviv, kann nur nicken: „Natürlich ist die Zusammenarbeit für sie schwierig. Wir leben auf der Seite derjenigen, die sie einsperren. Uns geht es gut, wir reisen, gehen in Bars.“

Immer wieder wird in den entstehenden Aktionen der Bezug zur innerdeutschen Grenze hergestellt. Suleiman Mansour etwa ist dieser Bezug wichtig. Erst so würde der Anachronismus israelischer Politik deutlich. Der Israeli Oren Sagiv kann damit aber weniger anfangen: „Die Berliner Mauer ist nur ein weiterer Mythos, davon haben wir mittlerweile genug.“ Er winkt ab, besonders Israel hätte mit Symbolen oft Manipulation betrieben. Ihm gehe es darum, durch Kunst ideologiefreie Formen der Wahrnehmung zu ermöglichen – wie immer das dann gehen soll. Kaum einer der Künstlergruppe hat jedenfalls Angst vor einer Reduktion ihrer Kunst auf ein politisches Statement.

Wenn man so zwischen Suleiman Mansour und Oren Sagiv hin und her pendelt, fallen einem viele Unterschiede auf, auch die feinen: Mansours schlichter Anzug, sein einfacher Haarschnitt stammen aus einer anderen Welt als die des Israelis Sagiv. Angesprochen auf die Unterschiede, die einen durchaus an die Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschen vor dem Hintergrund der Mauer erinnern können, schüttelt Suleiman Mansour jedoch den Kopf: „Die Deutschen werden irgendwann ein Volk sein. Genauso wie Israelis und Palästinenser.“ Er wirkt sehr fest in seinem Glauben daran, dass die Mauer nicht das letzte Wort sein kann.