Bürgerlicher Extremismus

Formen von Bürgerlichkeit hat es immer gegeben, auch unter der rot-grünen Hegemonie. Doch weiche Stilfragen von einst sind gerade dabei, zu harten Klassenfragen zu werden. In Zeiten der ökonomischen Krise entsteht wieder Klassenbewusstsein

VON ALEXANDER CAMMANN

Ewig scheint die Bundestagswahl her zu sein. Erinnern wir uns: Zahllose Umfragen und Leitartikel hatten den Triumph des bürgerlichen Lagers prognostiziert, doch die bürgerliche Machtergreifung blieb aus. Aus unerklärlichen Gründen schaffte es Angela Merkel dann dennoch, sich zur Kanzlerin wählen zu lassen – angesichts ihres persönlichen Desasters eine bewundernswerte Leistung.

Am Ende eines abenteuerlichen politischen Jahres wäre das allein ein guter Grund, sich kopfschüttelnd zu wundern. Doch Staunen machen an diesem Regierungswechsel vor allem die chamäleongleichen Wandlungen des bürgerlichen Lagers. So wollte Merkel vor wenigen Monaten noch siegesgewiss „aus einem Guss“ „durchregieren“ – jetzt lobte sie in ihrer Regierungserklärung die „Politik der kleinen Schritte“. Das allmähliche Ankommen in der Realität des Regierens ist ein normaler Prozess für einst Opponierende. Doch im Vergleich zur lautlosen Geschmeidigkeit Merkels waren die Grünen immer prinzipientreu. Für die CDU ist die Fallhöhe dabei enorm. Schließlich hat man jahrelang die bürgerlichen Grundtugenden Skepsis und Augenmaß ignoriert und revoluzzerhaft mit Bierdeckelsteuerreformen und Kopfpauschalen den Systembruch propagiert – ganz anders 1998, als Rot-Grün ausdrücklich nicht alles anders machen wollte als die Vorgänger.

Deutlich wird dabei eines: Der utopische Überschuss war zuletzt nicht mehr wie einst auf der politischen Linken beheimatet, sondern auf der Rechten, die das Land revolutionieren wollte. Dieser Radikalismus machte übrigens die Merkel-CDU für Exlinke attraktiv: Der umwälzende Furor schmeckte vertraut, zumal in seiner Verachtung alles biederen Sozialdemokratischen. Um totale Befreiung ging es wie ehedem, damals von der Knechtschaft des Kapitals, heute von der des Abgabenstaates. Zur konkreten Utopie wurden für Renegaten nunmehr Einheitssteuersätze für alle. Zahllose „Mein erstes Mal mit Angie“-Vorabbeichten in den sommerlichen Feuilletons waren die Folge. Doch die heißen Träume währten nicht lange; im grauen Dezember müssen die jungbürgerlichen Poschardt-Deutschen nach wie vor mit einer sozialdemokratisch geprägten Regierung leben. Merkels „Mehr Freiheit wagen“ muss in ihren Ohren wie Hohn klingen.

Die Lage am bürgerlichen Wertehimmel scheint also gegenwärtig unübersichtlicher denn je. Ist für die Union die Anpassung an die SPD machtpolitischer Opportunismus pur oder generelles Indiz für tiefer wurzelnde inhaltliche Leere und Orientierungslosigkeit? Soll man, frisch an der Regierungsmacht, ideell aufrüsten, nur weil manche glauben, nicht der führungsschwache Zickzackkurs, sondern der kühle, ökonomistische Hauch der Kandidatin hätte das miese Wahlergebnis verursacht? Ihren letzten Kulturkampf hat die Union rasch erfolglos eingestellt und dennoch unangefochten 16 Jahre regiert: Helmut Kohls „geistig-moralische Wende“ 1982/83.

Was auf der politischen Ebene diffus erscheint, bekommt in der Gesellschaft seit geraumer Zeit Konturen. Hier verschieben sich die Koordinaten. In den vergangenen Jahren wurden wir Zeugen einer paradoxen Ungleichzeitigkeit: Das rot-grüne Lager verlor, kaum an der Regierung, rasch die kulturelle Hegemonie, die es fern der Macht in der Ära Kohl durchweg besessen hatte. Talkshowthemen und Bestsellerlisten belegen eindrucksvoll die intellektuelle Vorherrschaft von Friedrich Merz, Gabor Steingart, Hans-Olaf Henkel und Udo di Fabio. Die Zauberworte des Zeitgeistes heißen heute „Eigenverantwortung“ und „Leistungsbereitschaft“ – konsensfähige Kernbegriffe der öffentlichen Debatten und zugleich Schlüsselterminologien für die bürgerliche Gesellschaft.

Anders als noch vor einem Vierteljahrhundert will heute kaum jemand mehr un- oder antibürgerlich sein. Bürgerliche Lebensart steht hoch im Kurs. Messerbänkchen und gestärkte Stoffservietten, Golfspielen und das Betreiben privater Salons und Geselligkeiten, Bestsellererfolge wie der des Prinzen Asfa-Wossen Asserate mit seinem Manieren-Buch oder das eifrige Sammeln moderner Kunst, das der Branche momentan einen einzigartigen Boom beschert – all das sind Phänomene eines Klimawandels.

Gustav Seibt, Essayist und moderner Bildungsbürger, hat in seiner jüngst erschienenen Aufsatzsammlung „Canaletto im Bahnhofsviertel“ dieses „Bürgerlichkeitsrevival als Retro unter vielen anderen“ klassifiziert. Er sieht vor allem die Äußerlichkeiten eines „Bürgerlichkeitsspiels“, das zur „reichen Angebotspalette ästhetisierter Lebensstillagen“ gehöre. Angesichts des weltweiten Siegeszugs der Popkultur, angesichts der sich überall auflösenden Grenzen zwischen Trash- und Hochkultur spricht zunächst einiges für diese Deutung. Doch aus dem Spiel ist längst Ernst geworden: Die ökonomische Krise der letzten Jahre begrub endgültig die – ohnehin fragwürdige – „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) hierzulande. Formen von Bürgerlichkeit hat es zwar in den vergangenen Jahrzehnten immer gegeben. Doch weiche Stilfragen von einst sind wieder zu harten Klassenfragen geworden. Angesichts von Abstiegsängsten, des Auftauchens neuer Unterschichten und der Rückkehr der Klassengesellschaft bieten die feinen Unterschiede des bürgerlichen Lebensstils Halt und Abgrenzungsmöglichkeiten nach unten. Bürgerlichkeit wird in Zeiten der Krise zur Identitätsressource; es entsteht wieder Klassenbewusstsein.

Dennoch kann man die Verfallsgeschichte des Bürgers heute noch erzählen. In einem vor sich hin mäandernden Gesprächsband haben sich der frühere Verleger Wolf Jobst Siedler und der einstige FAZ-Herausgeber Joachim Fest, beide Jahrgang 1926 und Studienabbrecher, gemeinsam noch einmal auf die Suche nach dem Bürgertum gemacht. Sie sind in der deutschen Gegenwart nicht mehr fündig geworden, denn Männer mit Krawatte treffe man auf dem Berliner Kurfürstendamm schon lange nicht mehr („Der lange Abschied vom Bürgertum“, wjs verlag). Das „planetarische Kleinbürgertum“, das der italienische Philosoph Giorgio Agamben zu entdecken glaubte, wird bei den beiden älteren Herren zu einer realen Schreckensvision. Immerhin glaubt Fest, den der Dichter Durs Grünbein einmal einen „Metabürger“ nannte, an einen immerwährenden Formwandel des Bürgers.

Dieser Formwandel zeitigt heute reichlich unfeine Ergebnisse, die sich vom – gerne inszenierten – konservativen Stilbewusstsein Fests und Siedlers beträchtlich unterscheiden. Frank Schirrmacher, Fests Nachfolger im Olymp des deutschen Bürgertums, dem Herausgebergremium der FAZ, erzeugt mit Vorliebe publizistische Krawalle. Arnulf Baring meinte schon vor drei Jahren in legendärer Manier angesichts der Krise alle Haltung verlieren zu müssen und die Bürger auf die Barrikaden zu rufen. Mittlerweile hat solch bürgerlicher Radikalismus auch die ehrwürdigste Institution des Rechtsstaats, das Bundesverfassungsgericht, erreicht. Der konservative Verfassungsrichter Udo di Fabio hat mit seinem Pamphlet „Die Kultur der Freiheit“ der deutschen Gegenwartsgesellschaft den Kampf angesagt: Sie sei von Bindungslosigkeit, Freiheitsvergessenheit und 68er-Dominanz geprägt. Sein Buch wäre die ideologische Unterfütterung für den bürgerlichen Machtwechsel geworden. Nun erfüllt di Fabio seine Mission in Vorträgen und großen Interviews von Spiegel bis Zeit. „Staatsernst“, jene für Dolf Sternberger so zentrale bürgerliche Tugend, ist in all diesen frivolen Attacken nicht mehr zu entdecken. Wenn Ärzte mit Lohnforderungen von 30 Prozent auf die Pauke hauen, passt das ins maßlose Bürger-Bild – welcher Proletarier wäre je auf eine vergleichbare Idee gekommen?

Der bürgerliche Extremismus kann sich jedoch unter der großen Koalition abschleifen, so wie einst die „geistig-moralische Wende“ verebbte. Denn Rot-Grün und die 68er als dauerhaft inszenierbarer Feind sind abgetreten, die radikale Geste zur Identitätsstiftung mithin kaum mehr wirksam. Noch wird zwar die Bundeskanzlerin in der eigenen Truppe als fremd und untypisch wahrgenommen: eine ostdeutsche, kinderlose Frau. Vielleicht entdeckt das bürgerliche Lager sie jedoch schon bald als ein typisches Produkt deutscher Bildungsbürgerlichkeit (endlich keine Aufsteiger mehr an der Spitze!): eine protestantische Pfarrerstochter, promovierte Naturwissenschaftlerin, Wagnerianerin und Professorengattin. Falls nicht, ist die Teilhabe an der Macht dennoch sicher; genügend Nachfolger lauern schließlich geduldig.

Angesichts einer bürgerlich gestimmten Gesellschaft steht jedoch eines fest: Für die deutsche Linke wird es ein langer und kalter Winter werden, bis sie in ferner Zukunft zunächst die kulturelle Hegemonie und schließlich die ungeteilte politische Macht wieder erlangen kann.