Die rot-rote Bilanz

Heute verabschiedet das Abgeordnetenhaus den letzten Haushalt vor der Neuwahl im September 2006. Zeit, Bilanz zu ziehen. Was versprach Rot-Rot zu Beginn der Legislatur im Koalitionsvertrag? Viele Vorhaben hat der Senat umgesetzt – alles in allem bleibt Berlin aber eine Baustelle

Frauen

Zentrales Politikziel sei ein „gleichberechtigtes Verhältnis zwischen den Geschlechtern in allen Lebens- und Arbeitsbereichen“. So steht es in der Koalitionsvereinbarung. Ein Instrument dafür ist Gender Mainstreaming. Dahinter verbirgt sich die Forderung, zu untersuchen, ob sich Verwaltungshandeln unterschiedlich auf Frauen und Männer auswirkt und ob dies zu einer Ungleichbehandlung führt. Um dies überhaupt sagen zu können, forcierte der Senat, dass Statistiken in Zukunft geschlechtssensibel erfasst und ausgewertet werden.

Immerhin liegen nun exemplarische Daten vor, an denen sich die zukünftige Budgetierung orientieren kann. Ein Beispiel: In Charlottenburg-Wilmersdorf wurde bei einer Erhebung festgestellt, dass Männer und Frauen „in der Beratungsarbeit für Behinderte und pflegebedürftige Personen“ unterschiedlich über gleiche Anträge befinden. Entscheiden Sozialarbeiterinnen, dann erhalten 90 Prozent der Männer, aber nur 67 Prozent der Frauen, die einen Antrag auf „soziale Betreuung“ stellen, die Pflegeleistung, die bei der Bewältigung des Alltags unterstützt. Entscheiden Sozialarbeiter darüber, befürworten diese die Anträge beider Geschlechter zu je 100 Prozent. Wie solche Erkenntnisse in politisches Handeln münden, ist noch offen.

Dass aber letztlich die Verteilung öffentlicher Gelder dabei die Crux ist, zeigt sich konkret an anderen Pfeilern der Koalitionsvereinbarungen wie der Antigewaltarbeit und den Frauenprojekten. Nur durch viel öffentlichen Druck konnte zumindest die Schließung von Frauenhäusern verhindert werden. WS

Verkehr

Wichtigstes Projekt der Verkehrspolitik bleibt der Ausbau vom Flughafen Schönefeld. Gebaut wird noch nicht, aber immerhin wird im nächsten Jahr das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes erwartet. Dieses ist die letzte Instanz. Der rot-rote Senat hat die Schließung der beiden innerstädtischen Flughäfen Tempelhof und Tegel auf den Weg gebracht; dicht sind sie aber noch lange nicht.

Im öffentlichen Personennahverkehr sollten alle Bahnhöfe mit Personal besetzt werden. Dieses Ziel liegt in der Ferne. Über eine Fusion von BVG und S-Bahn redet niemand mehr. Dafür erhalten die BVG-Beschäftigten – ebenso wie die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst – deutliche weniger Lohn. Die Fahrpreise stiegen munter weiter. In der Fläche wurde das Angebot ausgedünnt. Der Ausbau des Straßenbahnnetzes kam kaum voran.

Wie im Koalitionsvertrag beschlossen, hat der rot-rote Senat ein Straßenbaubeitragsgesetz eingeführt. Damit sollen Anwohner beim Neu- und Ausbau von Straßen zur Kasse gebeten werden. Die kostenpflichtigen Parkzonen wurden ausgeweitet, der Ausbau der Bundesautobahn A 113 vorangetrieben. Für Fahrradfahrer wurde ein Radverkehrsplan erstellt. ROT

Arbeit & Europa

Berlin kann sich rühmen, die rote Laterne in Sachen Arbeitslose an MeckPomm abgegeben zu haben. Angesichts der jüngsten Meldungen über Betriebsschließungen sicher kein Trost. In der Arbeitsmarktpolitik setzte die Bundesregierung Reformen durch, die den Rahmen für die Berliner Akteure bilden. Entscheidende Akzente, welche die Situation für Arbeitslose verbessern, konnte die Landesregierung nicht setzen.

Arbeitssenator Harald Wolf (Linkspartei) wollte mit einer so genannten Positivliste dem Wildwuchs bei den Ein-Euro-Jobs begegnen. Die Betroffenen sollen zudem Möglichkeiten der Qualifizierung erhalten. Die Umsetzung der umstrittenen Hartz-IV-Reform ist fast ein Jahr nach In-Kraft-Treten weiterhin chaotisch. Betroffene berichten über häufige Querelen mit den Behörden.

In der Sozial- und Gesundheitspolitik mussten Anbieter und freie Träger Kürzungen hinnehmen. Auch beim öffentlichen Gesundheitsdienst wird gekürzt. Den landeseigenen Klinikkonzern musste der Senat entschulden, um ihn vor der Insolvenz zu retten. Die Beschäftigten nahmen Einkommensverluste in Kauf. Die Struktur der Charité soll gestrafft werden. Auch hier werden Subventionen gekürzt.

Noch hat es Berlin nicht geschafft, die Wirtschaftsförderung des Bundes zu beeinflussen. Über die Gemeinschaftsaufgabe regionale Wirtschaftsförderung wird noch immer ganz traditionell die Industrie gefördert, während die vielgerühmten Investitionen in Köpfe damit nicht möglich sind.

Die Europabilanz fällt zweischneidig aus. Da ist zum einen der Regierende, der sich für dieses Thema herzlich wenig interessiert. Zum anderen treibt Wirtschaftssenator Harald Wolf Berlin als Standort in Mitteleuropa voran. Dem diente die Schaffung einer einzigen Anlaufstelle für Investoren sowie die Zusammenlegung der Wirtschaftsförderung mit der Berliner Außenhandelsorganisation BAO und der Marketinggesellschaft Partner für Berlin. ROT, WERA

Kultur & Forschung

Die Umstrukturierung der Hochschulmedizin ist ein Großprojekt. Das Uniklinikum Benjamin Franklin wurde nicht privatisiert, sondern mit der Charité verschmolzen. Dieses Gebilde wird nun durch so genannte Zentrenbildung wieder zerlegt. Das sieht das Universitätsmedizingesetz vor, das 2006 in Kraft tritt. Ob es der „Sicherung der Spitzenposition der Hochschulmedizin in Berlin“ dient, wie im Koalitionsvertrag gefordert, ist angesichts der Senatskürzungen von knapp 100 Millionen Euro bis zum Jahr 2010 zweifelhaft.

Die Vielfalt der Berliner Kultur gehört laut Koalitionsvertrag zu den wesentlichen Zukunftsressourcen. Dennoch schrumpft der Kulturhaushalt seit 2003; von 375 Millionen auf 347 Millionen Euro bis 2007. Hart getroffen hat es die Bühnenlandschaft: Das Theater des Westens und das Schlosspark Theater wurden aus der öffentlichen Förderung gekickt. Zahlreiche andere Häuser leiden unter sinkenden Zuwendungen. Dieses Jahr nicht überlebt haben die Berliner Symphoniker – trotz der Koalitionszusage, die Bühnen und Orchester dauerhaft zu sichern.

Erfolgreich umgesetzt hat der Senat sein Vorhaben, Kultureinrichtungen an den Bund abzugeben. Er drückte dem Bund die Baukosten auf der Museumsinsel und der Staatsbibliothek Unter den Linden auf. Neu durchgesetzt hat er die Übernahme der Akademie der Künste, des Hamburger Bahnhofs und der Stiftung Deutsche Kinemathek. Die so frei gewordenen Mittel fließen in die neue Opernstiftung. Ambitioniert, aber utopisch sind die Pläne für die Berliner Gedenklandschaft. Zwar gibt es mittlerweile das Mauergedenkkonzept, doch es mangelt an Geld und an den Rechten für die benötigten Grundstücke an der Bernauer Straße. Gescheitert ist der Senat mit dem NS-Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“, das laut Koalitionsvereinbarungen längst fertig gestellt sein müsste. THT

Stadtentwicklung

Im Bereich Stadtentwicklung, kann sich die Bilanz von Rot-Rot durchaus sehen lasen. Oder besser die Bilanz von Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD). Anders als ihr Vorgänger Peter Strieder zeigte sich Junge-Reyer sehr entscheidungsfreudig. Das reichte von der Neuausschreibung für den Neubau der Topographie des Terrors bis zum Eingeständnis, dass die geplanten Hochhäuser am Alexanderplatz wohl das sind, was sie immer waren: Luftschlösser. Vor allem aber hat die ehemalige Sozialstadträtin aus Kreuzberg das Thema Zwischennutzung vorangebracht. Das bedeutet im Grunde: Abkehr von der Wachstumsplanung, hin zu neuen, kreativen Ideen und Provisorien.

Gleichwohl gibt es in der Bilanz der Senatorin auch Wermutstropfen. Das betrifft zum einen das Kulturforum, wo sie den scheidenden Senatsbaudirektor Hans Stimmann gewähren ließ und so eine Weiterentwicklung der Originalplanung von Hans Scharoun behindert. Zum anderen sieht sich Junge-Reyer als Exekutorin der Bundestagspläne, was den Abriss des Palasts der Republik betrifft. Ein bisschen mehr Mut zum Widerstand hätte man sich da gewünscht.

Völlig geräuschlos war auch der Paradigmenwechsel in der Wohnungs- und Sanierungspolitik. Öffentliches Geld für öffentliche Eigentümer, privates für private. Diese Maxime im Koalitionsvertrag bedeute auch das Aus für die teure Plattenbau- und Altbausanierung mit öffentlichen Geldern. WERA

Haushalt

Es ist erklärtes Ziel der Koalition, bis zum Jahre 2009 keine neuen Schulden mehr zu machen. Und das, nachdem das Land im Jahr 2001 fast 5 Milliarden Euro neue Schulden angehäuft hatte und die Planungen für 2002 mehr als 6 Milliarden Euro vorsahen. SPD und PDS zogen die Notbremse. Die Bremsspur zieht sich bis heute durch alle Etatposten. Jedes Ressort musste Kürzungen hinnehmen.

Was hat das gebracht? Der selbstbewusste Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) betont gern, dass Berlin im Jahr 2007 erstmals seit der Wiedervereinigung einen ausgeglichenen Haushalt aufweisen werde. Die Zinsen für den bereits heute rund 60 Milliarden Euro umfassenden Schuldenberg sind noch nicht eingerechnet. Trotzdem erkennen auch die Oppositionsparteien die Kärrnerarbeit des Finanzsenators an, der mit Rückendeckung des Regierenden Bürgermeisters umfangreiche Einsparungen durchgesetzt hat. Dahinter tun sich dennoch viele Wenn und Aber auf. Die Grünen kritisieren zum Beispiel, der gewiefte Zahlenjongleur Sarrazin verschiebe dringend nötige Sanierungen auf die Zeit nach 2007: von ICC, Steglitzer Kreisel, Staatsoper und Naturkundemuseum bis hin zur Komischer Oper.

Beim Personalabbau in den Landes- und Bezirksverwaltungen ist die Landesregierung vorangekommen. Der so genannte Solidarpakt im öffentlichen Dienst dämpft die explodierenden Kosten für Renten- und Pensionsansprüche: 8 bis 12,5 Prozent Gehaltsverzicht bei den Angestellten, die Abschaffung des Urlaubsgelds und weniger Weihnachtsgeld für die Beamten – all das durchzusetzen war nicht leicht. In den kommenden zwei Jahren sollen jeweils mehr als 3.000 Stellen wegfallen.

Bei allem Parteienstreit sind sich Opposition und Senat in einem Punkt einig: Wenn die Verfassungsklage Berlins auf milliardenschwere Entschuldungshilfen scheitert, hilft selbst die bisherige Rasenmähermethode beim Sparen nicht mehr. Für das Frühjahr 2006 rechnen Beobachter mit einer Entscheidung in Karlsruhe. Mitten im Abgeordnetenhauswahlkampf. MLO

Integration

Ganze zwei Seiten des Koalitionsvertrages widmen sich dem Thema Integration. Und weder die Opposition noch betroffene Vereine oder Verbände können den Fortschritten viel abgewinnen. Beispiel interkulturelle Öffnung der Verwaltung: Keine 2 Prozent der dort Beschäftigten sind Migranten. 10 Prozent aber fordert die zuständige Arbeitsgruppe des Integrationsbeirats. Auch Innensenator Ehrhart Körting (SPD) selbst soll diese Zahl als von ihm angestrebte genannt haben. Es tut sich aber nichts – Einstellungsstopps und die Nichtübernahme von ausgelernten Azubis verhindern den erleichterten Zugang von Menschen mit Migrationshintergrund zum öffentlichen Dienst.

Die Ausländerbehörde soll laut Koalitionsvertrag MigrantInnen besser beraten. Tatsächlich gibt es nun in immerhin einem ihrer Standorte mehrsprachige Hinweisschilder und Aufklärungsmaterialien. In der für Flüchtlinge und Asylbewerber zuständigen Außenstelle allerdings nicht. Intern soll Körting die MitarbeiterInnen sogar darauf aufmerksam machen, dass sie keine Informationspflicht zu bestimmten Themen hätten.

Letzter Punkt: Abschiebungen. Die Verhältnisse in der Abschiebehaft seien immer noch unbefriedigend, klagen Grüne, Flüchtlingsrat, Seelsorger und nicht zuletzt hungerstreikende Insassen. Die Innengitter wurden zwar entfernt – das sah der Koalitionsvertrag vor. Allerdings sollten Insassen auch besser gesundheitlich und mit Kleidung versorgt werden. Zudem droht zu oft die Abschiebung: Die im Zuwanderungsgesetz geschaffene Möglichkeit, ein Bleiberecht auch bei unklarer Rechtslage auszusprechen, wird von der Härtefallkommission zwar oft empfohlen, vom Innensenator aber häufig ignoriert. AWI

Inneres & Recht

Laut Koalitionsvereinbarung soll die Justizvollzugsanstalt Heidering bei Großbeeren in dieser Wahlperiode nicht gebaut werden. Dennoch ist beschlossen, dass der Senat in Brandenburg ein Männergefängnis mit 650 Plätzen errichtet. Die PDS ist eingeknickt. Der Knast soll 2010 in Betrieb gehen.

Auch beim Thema Cannabis sind die Koalitionäre weit hinter den Beschluss des Abgeordnetenhauses zurückgefallen. Die Abgeordneten hatten gefordert, eine Menge von 30 Gramm für den Eigenkonsum von Strafverfolgung freizustellen. Der Senat rang sich nur zu 15 Gramm durch. Ähnlich verhält es sich mit den Maßnahmen gegen Zwangsehen. In der Weisung, die der Innensenator der Ausländerbehörde erteilt hat, heißt es: Zwangsverheiratung „kann“ ein Grund für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht sein. Im Beschluss des Abgeordnetenhauses steht: Zwangsverheiratung „ist“ ein Grund.

Die Reiterstaffel der Berliner Polizei ist an die Bundespolizei übergegangen, das Polizeiorchester ist nach Brandenburg überführt worden. Die Polizeibehörde wurde umstrukturiert und die Führungsebene verschlankt. Das Vorhaben, Polizisten mit einem Namens- oder Nummernschild an ihrer Uniform individuell erkennbar zu machen, ist auf halber Strecke stehen geblieben. Die Angehörigen der geschlossenen Einheiten, die bei Demonstrationen zugegen sind, werden in der Gruppe gekennzeichnet, die gemeinsam in einem Fahrzeug sitzt.

Das neue Kommunikationssystem der Polizei, Poliks, wurde eingeführt. Es ist aber derart störanfällig, dass sich die Brandenburger möglicherweise für ein anderes System entscheiden. Auch die veraltete Fahrzeugflotte ist im Wesentlichen erneuert.

Dem Anspruch, bürgerfreundlich zu sein, ist die Polizei deutlich näher gekommen. Auch das Klima bei den Demonstrationen hat sich gewandelt. Statt des Schlagstocks regiert in der Regel die Sprache als Mittel der Verständigung. PLU