PHILIPP MAUSSHARDT über GERÜCHTE
: Die Karte des Grauens

Gammelfleisch ist nicht der Anfang, es ist das Ende eines Skandals

In der Kriminologie werden schon seit einiger Zeit geografische Profile erstellt, die eine Verbindung herstellen zwischen Wohn- und Tatort oder die die Häufigkeit bestimmter Delikte mit einzelnen Siedlungsgebieten korrelieren. Bei Scottland Yard kenne ich eine Geografin, die nichts anderes tut, als die Bezirke Londons nach den dort begangenen Delikten zu kartografieren. Auf einem Stadtplan von „Greater London“, der in ihrem Büro hängt, sind Mordfälle mit roten, Körperverletzungen mit grünen, Raubüberfälle mit gelben und Wohnungseinbrüche mit blauen Flächen unterlegt. Was in den Überschneidungsgebieten ein sehr schönes Farbenspiel ergibt.

Wenn mir als 12-jährigem Jungen wieder einmal mein Fahrrad gestohlen worden war, ging ich – völlig ohne kartografische Grundlage – ins nahe gelegene „Kleine Bol“, das Wohnquartier der sozialen Unterschicht in unserer Stadt, und holte mir mein Fahrrad wieder. Ich brauchte keine Landkarte: Ich wusste, wo die Fahrraddiebe wohnten. Genauso weiß ich heute, wo die Gammelfleisch-Mafia ihr Zuhause hat. Egal ob bei Ekelfleisch-Skandalen oder bei tierquälerischen Viehtransporten – man kann eigentlich immer in die niederbayerischen Landkreise Deggendorf oder Passau fahren und dem Erstbesten auf der Straße eine herunterhauen. Es trifft nie den Falschen. Mich hat es darum nicht verwundert, dass auch der neueste Fleischskandal genau dort seinen Ausgang nahm.

Bei meinen mehrfachen Reisen in diese Region begegnete ich häufig einem grobschlächtigen, breitköpfigen, gewaltbereiten Menschenschlag, der mir anfällig erschien für alle Arten von Sauereien. Einerseits sehr selbstgefällig und andererseits respektlos vor jeder Art von Kreatur, vor allem aber vor Mitgliedern der Grünen und anderen Schlachttieren. Jedenfalls war ich immer froh, wenn ich wieder heil aus dem Landkreis Deggendorf davonkam.

Es gibt also Gebiete in Deutschland, in denen bestimmte kriminelle Aktivitäten stärker verbreitet sind als in anderen. Betrug und Steuerhinterziehung zum Beispiel wird man im ganzen Land Brandenburg seltener als in der Gegend um das Frankfurter Bankenviertel feststellen können, wie wohl die Lüge und das Verdrehen von Tatsachen in Berlin ihre kartografisch sichtbarsten Ausdrucksformen finden würden. Das liegt nicht an den Berlinern. Vor einiger Zeit hätte Bonn noch auf dem Spitzenplatz gelegen.

Würde man allerdings die Dummheit als weitere Farbe in den kriminalistischen Atlas einarbeiten, ergäbe sich für ganz Deutschland eine eher monokolore Darstellung. Denn der aktuelle Lebensmittelskandal hat uns nicht nur das schöne neue Wort „Gammelfleisch“ beschert, aus dem mein Computer-Rechtschreibprogramm noch jedes Mal „Hammelfleisch“ macht, nein, er hat unser ganzes deutsches Volk vor der Welt als armselige, hirnlose Würstchen decouvriert, die zwar Mercedes fahren, aber Abfall fressen. Wir stopfen, so sieht es aus, alles in uns hinein, Hauptsache, es ist billig.

Wenn ich einmal richtig traurig sein will, dann gehe ich über die Straße in den gegenüberliegenden Supermarkt von „Real“ und schaue, was die Kunden in ihren Einkaufwagen legen. Es ist zum Weinen: Produkte der chemischen Industrie, schön verpackt und mundgerecht zugeschnitten. Plastikgemüse aus Belgien. Billig-Eier aus tschechischen Hühnerfabriken. Milch für 29 Cent der Liter. Wurst, die den Namen nicht verdient.

Die große Mehrzahl der Deutschen – sie verlangt nach Gammelfleisch! Der Handel hat letztlich nur das geliefert, was die Kunden haben wollten: billigsten Schrott, um sich fett und krank zu fressen und sich anschließend über die 10-Euro-Praxisgebühr zu beschweren.

Und wie ich mich so in Rage schreibe, da kommen mir die Deggendorfer auf einmal gar nicht mehr so böse vor. Sie haben doch nur getan, was man von ihnen erwartete. Gammelfleisch steht am Ende eines Skandals, der im Kopf jedes Kunden beginnt. Würde man auf einer Weltkarte die Qualität von Lebensmitteln in den einzelnen Ländern …, oh Gott, nein, bitte nicht.

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