Das Problem der Gleichheit

In Frankreich braucht es ein Programm mit pädagogischen, sozialen und kulturellen Maßnahmen, das den Nachfahren der Einwanderer hilft, den Ghettos zu entkommen

In den Schulen herrschen katastrophale Zustände, und die Wohnghettos verelenden

Heute vor hundert Jahren, am 9. Dezember 1905, trat in Frankreich das folgenreiche „Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat“ in Kraft. Historisch wurzelt dieser Laizismus in der Aufklärung, in Voltaires Schlachtruf „Écrasez l’infame superstition!“ („Rottet den niederträchtigen Aberglauben aus!“) und im Antiklerikalismus der Französischen Revolution. Zwar erneuerte Napoleons Konkordat mit dem Vatikan (1801) kurzzeitig das vorrevolutionäre Bündnis von Staat und Kirche. Doch die fragile Koexistenz endete 1894 mit der Dreyfus-Affäre schlagartig. Die Republikaner standen nun einer Allianz aus Nationalisten, Militaristen, Antisemiten und Klerikalen gegenüber, die alle gegen den jüdischen Offizier Front machten und die skandalösen Machenschaften der Militärgerichtsbarkeit billigten.

Das Laizismus-Gesetz von 1905 markiert das Ende der Kumpanei von Kirche und Staat. Seither gehören Laizismus und Republikanismus zu den Säulen des französischen Staats- und Politikverständnisses. Das war ein Fortschritt. Heute jedoch ist aus Laizismus und Republikanismus, den beiden Pfeilern der profanen Staatsreligion, eine konformistische Ideologie mit enormem Konfliktpotenzial geworden. Das belegen die jüngsten Krawalle in den Banlieues und die Reaktionen darauf.

Außer auf dem Laizismus beruht der Republikanismus nämlich auf einem rigiden Verständnis von Gleichheit, zu deren Durchsetzung dem Staat weitgehende Befugnisse zustehen. Französischer Republikanismus und liberal-demokratisches Staatsverständnis im angelsächsischen Sinne unterscheiden sich darin, dass der Republikanismus im Konfliktfall der Gleichheit Vorfahrt gewährt vor der Freiheit.

Nach liberal-demokratischem Staatsverständnis, das die Autonomie des Einzelnen, insbesondere die wirtschaftliche Selbstverantwortung, betont, ist es genau umgekehrt – zuerst die Freiheit, dann die Gleichheit. In Frankreich regelt der Staat nicht alles, aber vieles; in den angelsächsischen Ländern gilt der Staat als ein notwendiges Übel und ist der Idee nach auf Justiz-, Polizei-, Militär- und Feuerwehrdienste herunterzufahren.

Was in den letzten Wochen in den Banlieues explodierte, war das brisante Konfliktgemisch, das sich dort seit dreißig Jahren zusammenbraut. Es besteht aus Massenarbeitslosigkeit, sozialer Diskriminierung, Schulmisere, kultureller Verödung, ghettoisiertem Wohnen, Gewalt, Rassismus und Polizeiwillkür. Die französische Politik, die Medien und die Öffentlichkeit reagieren auf diesen permanenten – nicht jetzt „ausgebrochenen“ – sozialen Notstand mit der Berufung auf die alten Geschäftsgrundlagen und den rechtlichen Ausnahmezustand.

Der Präsident der Republik rief den „jungen Menschen“ zu, sie alle seien „Töchter und Söhne der Republik“. Formal stimmt das. Sie sind in Frankreich geborene Nachfahren von Einwanderern und damit französische Bürger mit französischem Pass. Als Gleiche behandelt wurden sie jedoch nie. In den Schulen herrschen katastrophale Zustände, und die Wohnghettos verelenden. Auf dem Arbeitsmarkt haben die nominellen „Töchter und Söhne der Republik“ nicht nur keine gleichen, sondern gar keine Chancen.

Der auf rigider Gleichheit beharrende Republikanismus tut sich schwer, für benachteiligte Gruppen sozialpolitische, pädagogische, kulturelle und arbeitsmarktpolitische Instrumente zu entwickeln. Denn in den Augen der Berufsrepublikaner und -laizisten verstoßen solche Konzepte der Bevorzugung einzelner Gruppen gegen den Gleichheitsgrundsatz.

Ein solches Gleichheitsverständnis bleibt jedoch juristisch abstrakt und politisch zynisch. Es verweigert, was einzig aus dem Elend helfen würde: Chancengleichheit durch Programme gezielter pädagogischer, sozialer und kultureller Ungleichbehandlung zu erreichen. Normativ meint Gleichheit in Demokratien, sozial Ungleiche ungleich zu behandeln. Nur Diktaturen bearbeiten alle mit dem Rasenmäher.

Mindestens so schlimm wie die Blindheit der Republik gegenüber dem permanenten sozialen Notstand ist die mediale Bearbeitung. Insbesondere für die konservative Presse sind die jungen Franzosen, die Krawall machen, erstens „Einwanderer“ und zweitens „Muslime“, denen Claude Imbert von Le Point pauschal attestiert, sie passten nicht zu „unserem Glauben, unseren Sitten und unseren Gesetzen“. Der Medienphilosoph Alain Finkielkraut dichtete den Unruhen „einen ethnisch-religiösen Charakter“ an, und das Akademiemitglied Hélène Carrère d’Encausse sah ebenso wie konservative Parlamentarier in der Polygamie die Ursachen für die Krawalle. So redete früher nur Le Pens Front National, jetzt sprechen Regierung, Teile der Opposition und der Medien genauso.

Politik und Medien betreiben mit ihrem Gerede von „Einwanderern“, „unkontrollierter Einwanderung“, „Muslimen“ und „islamistischen Bewegungen“ ein übles Geschäft: Sie diabolisieren und kriminalisieren nichtchristliche und nichtweiße Franzosen im Namen von „Republikanismus“ und „Laizismus“. Eigentlich zielen sie auf „den“ Islam und „den“ Fremden, um den permanenten sozialen Notstand in den Banlieues zu kaschieren, der das Problem ist, nicht Ethnien und nicht Religionen.

So redete früher nur Le Pens Front National, jetzt sprechen Regierung, Opposition und Medien so

Der Islam ist in Frankreich die zweitstärkste Religion. Wie viele von denen, die man per Hautfarbe zu „Einwanderern“ oder „Muslimen“ erklärt, fromme Muslime sind, weiß niemand. Aber dass unter denen, die Krawall machen, die Religion als Motiv oder islamistische Bewegungen als Antreiber keinerlei Rolle spielen, ist amtlich. Ein Polizeichef der von „islamistischen Drahtziehern“ der Krawalle fantasierte, musste dementieren. Die sozial Deklassierten brauchen keine religiöse Nachhilfe, um ihren Frustrationen Luft zu verschaffen und Autos anzuzünden – was in den zehn Monaten vor dem „Ausbruch“ der Krawalle im Durchschnitt immerhin 100-mal pro Nacht passierte, ohne dass Staat und Medien reagierten.

Natürlich lässt sich der soziale, schulische, wirtschaftliche und kulturelle Notstand in den Vorstädten nicht allein mit staatlichen Hilfen für die islamische Religionsgemeinschaft beheben. Aber die Tatsache, dass fromme Muslime ihre Religion in Kellern und Hinterhöfen ausüben müssen, ist erniedrigend und versetzt den staatlichen Laizismus wie den Gleichheitsgrundsatz der Republik ins Unrecht.

Ausgerechnet der rabiate Innenminister Nicolas Sarkozy hat diese Ungleichbehandlung durchschaut. Der Laizismus bindet ihm die Hände für eine staatliche Unterstützung islamischer Religionsgemeinschaften. Bei der großzügigen Subvention katholischer und anderer Privatschulen hingegen, in denen die republikanische Elite ihre Kinder ausbilden lässt, nimmt man es mit der Gleichbehandlung nicht so ernst. Republikanismus und Laizismus stehen heute vor allem für Krypto-Rassismus und Bigotterie. In den aktuellen Konflikten wirkt beides als Brandbeschleuniger. RUDOLF WALTHER