Herr der Leichen spaltet Guben

In Guben will Leichenpräparator Gunther von Hagens ein neues Institut eröffnen. Das gefällt zwar dem Bürgermeister. Aber viele Einwohner sind dagegen. Ein Bürgerentscheid könnte Klarheit schaffen

aus Guben Christo Förster

Guben nach Sonnenuntergang ist ungefähr so aufregend wie ein Tanz ohne Musik. Und die Sonne sagt sehr früh Gute Nacht im äußersten Osten Deutschlands, direkt an der polnischen Grenze. Gut 21.000 Einwohner. Hier kann man minutenlang durch die Straßen spazieren und begegnet niemandem; fast alle Häuser stehen leer. Melancholie kommt auf, weil diese Häuser, diese verwahrlosten Paläste des Jugendstils, einmal so wunderschön gewesen sein müssen.

Direkt nebenan, auf der anderen Seite der Neiße, liegt das polnische Gubin, der siamesische Zwilling. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Stadt zuerst zerbombt und dann geteilt. Das Herz, die historische Altstadt, ging an Polen. „Guben, Perle der Niederlausitz“ – was unablässig zu Marketingzwecken propagiert wird, ist längst blanker Hohn. Zwar war die Stadt in der DDR noch lange ein Textil-Zentrum, aber die Zeit nach der Wende hat sie zermürbt. Diese 15 Jahre haben Spuren hinterlassen. Wirtschaftlich wie sozial.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis derjenige kommt, der die dünne und sensible Haut der Gubener aufreißt und die ganze angestaute Enttäuschung freilegt. In seinem Fall ist das Bild mit der Haut ein wenig skurril, aber es passt: Gunther von Hagens, der Plastinator. Der Mann, der in China, Kirgisien und Heidelberg Leichen präpariert und sie dann in seiner „Körperwelten“-Ausstellung präsentiert. Er hat vor kurzem die Absicht geäußert, in die Gemäuer der alten Gubener Wollfabrik zu ziehen. Mit Bekanntwerden dieser Idee ist in Guben ein Streit um Markt und Moral entbrannt. Auf der einen Seite die Hoffnung auf Arbeitsplätze, auf der anderen die Angst vor ethischem Werteverfall. Ein Riss, der quer durch die Stadt verläuft, der sich durch Familien zieht und Kollegen entzweit.

Im Arbeitsamt sieht man von Hagens als Chance. „Das muss doch jeder selbst entscheiden, ob er da arbeiten möchte. Gerade war eine völlig verzweifelte Frau hier, die Kinder behindert, der Mann krank. Die würde jeden Job machen. Jeden“, sagt eine Mitarbeiterin, die ihren Namen lieber nicht nennen möchte. Vor allem, weil sie gegen den immer lauter werdenden Protest der Kirche wettert: „Die Pfarrer sind ja nicht arbeitslos. Und was die da im Mittelalter getrieben haben, Inquisition und so, dagegen ist Plastination doch ein Witz.“

Gegenseitige Vorwürfe bei völlig nebulösen Informationen über die konkreten Pläne des Gunther von Hagens – Guben dreht am Rad. Auch die frierende Männerrunde vor dem einsamen Glühweinstand diskutiert leidenschaftlich, kann sich aber nicht einigen. Zu allem Überfluss hat sich vor einigen Tagen Lech Kiertyczak, der Bürgermeister von Gubin, enttäuscht zu Wort gemeldet. Er habe erst aus den Medien erfahren, dass sein Kollege auf der deutschen Seite Gespräche mit von Hagens führt.

Angesichts der brodelnden Stimmung in der Stadt haben die Oppositionsparteien auf eine Sondersitzung der Stadtverordnetenversammlung gedrängt. Als diese am Mittwochabend abgehalten wird, ist Bürgermeister Klaus-Dieter Hübner (FDP) heftigem Gegenwind ausgesetzt. Er habe von Hagens wie jeden anderen interessierten Investor behandelt, sagt er. Doch genau das werfen die meisten Stadtverordneten ihm vor – fehlendes Fingerspitzengefühl, Fixierung auf wirtschaftliche Interessen.

Die Kritik, dass Hübner es bei diesem sensiblen Thema lange nicht für nötig hielt, die Stadtverordneten über die Gesprächen mit von Hagens zu informieren, ist fraktionsübergreifend. Hübner, der an diesem Abend so schwerfällig spricht, als wäre er kurz vorm Einschlafen, betont immer wieder, dass es bislang keine Zusagen gibt. Weder seitens der Stadt noch seitens Gunther von Hagens’.

„Man muss jetzt erst mal abwarten, bis er sagt, ob er kommt oder nicht.“ Der Bürgermeister hört sich nicht nur müde an, sondern auch demütig gegenüber von Hagens. Schließlich verliest Hübner einen offenen Brief des potenziellen Investors an die Stadtverordneten, in dem dieser seine Absichten erklärt: Die Präparation der Leichen solle weiterhin in China betrieben werden, eine Verlegung dieser Arbeitsgänge nach Guben komme nicht in Frage. Es bestehe der Plan, in der alten Wollfabrik ein Institut für Plastination einzurichten, das der Forschung sowie der „Fertigung dünner plastinierter Körperscheiben“ diene. Außerdem solle es eine „Körperspendezentrale“ beherbergen und der Plastination von Großtieren wie Elefanten dienen.

Als er zum Absatz gelangt, in dem es um die Arbeitsplätze geht, versucht Hübner die Zeilen durch gezielte Atempausen ein wenig konkreter erscheinen zu lassen. Er schafft es nicht. Die Zeilen lauten: „Die in der Presse immer wieder zu lesenden 200 Arbeitsplätze will ich nicht verneinen, ich möchte sie jedoch auch nicht versprechen. Die Entwicklung wird zeigen, in welchem Zeitraum und Umfang dies zu realisieren ist. Da für viele Arbeiten Verlässlichkeit und Genauigkeit wichtiger sind als Fachkenntnis, benötige ich auch Mitarbeiter ohne Fachausbildung.“

Als Hübner ausgelesen hat, entbrennt eine Debatte, die davon zeugt, dass die Stadtverordnetenversammlung tatsächlich ein repräsentatives Abbild der Gubener ist. Es wird ordentlich gestritten. Ingo-Kersten Ley (SPD), der das Thema vor zwei Wochen durch provokative Äußerungen überhaupt erst in die Medien gebracht hat, ist das Enfant terrible der Stadtpolitik. Lange Haare, Lederklamotten, mit Nieten besetzte Plateau-Boots. Er gilt als Todfeind des Bürgermeisters, spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist: „Wenn der von Hagens erst mal hier ist, ist er hier. Dann blüht nämlich die Leichenbeschaffung aus Osteuropa bei uns auf.“

Der evangelische Pfarrer Domke, der ein Sonderrederecht erhält, ist zwar diplomatischer, schlägt aber in die gleiche Kerbe: „Diesem Unternehmen kann man nicht den kleinen Finger geben, es nimmt – mindestens – die ganze Hand.“

Während Hübner gerade wieder ansetzt, zu beschwichtigen und die eigene Vorgehensweise zu verteidigen, ruft einer der rund 50 anwesenden Bürger plötzlich: „Herr Ley, können Sie nicht mal den Mund halten?“ Da muss das Enfant terrible wohl getuschelt haben. Jetzt geht es rund. Wenig später beschuldigt Jana Wilke, Fraktionsmitglied der „Gruppe unabhängiger Bürger“ und ehemalige Apfelkönigin, den Stadtverordneten Ley, einen Informanten in der Stadtverwaltung zu haben, und meint dessen Frau, die im Ordnungsamt arbeitet. Ley keilt zurück, Wilke geht zur Tür, um den Raum zu verlassen, dreht aber wieder um. Erst als Irmgard Schneider (Bündnis für Guben) beginnt, die unökologische Energiepolitik für die verfahrene Situation verantwortlich zu machen, fällt der Versammlung auf, dass sie den Faden verloren hat.

Immerhin reicht das Urteilsvermögen der Truppe noch, um einzusehen, dass die Diskussion nach dem „Alleingang“ des Bürgermeisters zu sehr von Emotionen geleitet ist, als dass man hier und heute Entscheidungen treffen könnte. Es wird also beschlossen, die Bürger Gubens zuerst ausreichend zu informieren. Über die aktuelle Lage, über Plastination, über Ethik und Moral. Dann, möglichst im Januar, soll Gunther von Hagens in Guben sein Tun in einer „Show“ vorstellen. Vom Multifunktionssaal ist die Rede. Mit einem noch festzulegenden Gegenspieler. Und neutralem Moderator vielleicht, aber das ist Sache der Vorbereitung im Hauptausschuss.

Wenn dann alle rundum schlau sind, soll es einen Bürgerentscheid geben. So wünscht es die Mehrheit der Stadtverordneten. Damit es dazu kommt, müssen dieser Idee mindestens zehn Prozent der Bürger zustimmen.

Die Stadtverordneten hoffen auf eine andere Entwicklung als in Sieniawa Zarska, dem polnischen Dorf 50 Kilometer hinter der Grenze. Auch dort wollte von Hagens investieren, scheiterte aber am Widerstand im Ort. Der Plastinator ging, die Einwohner sind noch heute zerstritten.