Der größte aller Schätze

Der Schriftsteller Alex Capus wandelt in seinem Buch „Reisen im Licht der Sterne“ auf den Spuren von Robert Louis Stevenson. Er hat eine Vermutung: Gab es die Schatzinsel vielleicht doch?

von KONSTANTIN RIFLER

Während die einen den Speicher der Großeltern durchforsten, suchen die anderen in ihrer Kindheit im Nachbargarten nach den sagenumwobenen Schätzen dieser Erde. Aber fast jeder hat sich irgendwann einmal im Geiste zusammen mit Jim Hawkins und dem einbeinigen Long John Silver auf die Suche nach dem Schatz der Schätze gemacht, den Schatz des Piraten Flints. Robert Louis Stevenson bekräftigte immer wieder, dass sein berühmter Roman „Die Schatzinsel“ pure Erfindung gewesen sei. Doch was wäre, wenn es den fiktiven Schatz wirklich gäbe, was wäre, wenn „Generationen von Schatzsuchern nur am falschen Ort gegraben haben, weil Stevenson das Geheimnis für sich behalten wollte“? Diese Frage stellt nun der Schweizer Schriftsteller Alex Capus und versucht sie in seinem Buch „Reisen im Licht der Sterne“ zu beantworten, wenn auch nicht immer konsequent.

Als Stevenson im Dezember 1889 auf Samoa landete, wollte er nur für eine Reportage recherchieren und die Insel so schnell wie möglich verlassen. Doch schon nach drei Wochen erwarb er ein großes Stück Land und ließ mitten im Dschungel ein luxuriöses Herrenhaus mit kolonialer Innenausstattung bauen. Und das, obwohl das feucht heiße Klima auf der Südseesinsel dem lungenkranken Schotten alles andere als gut tat.

Doch warum, fragt Alex Capus, hielt Stevenson bis zu seinem Tod auf diesem winzigen Stück Land mitten im Pazifik die Stellung, oder, wie es im Eingangszitat Captain Davis, eine Figur aus einer der Erzählungen Stevensons, ausdrückt: „Was hängt der hier auf dieser Scheißinsel rum? Ich sage euch: Der sucht hier keine Ostereier.“

Eine Spur führt Capus zur Familie Stevenson: Der zerstrittene „Clan“ scharte sich um den dauernd kränkelnden Hausherrn, der als „Mittelpunkt dieses Spinnennetzes“ nach ständiger Pflege oder anderen Diensten, wie der stundenlangen Niederschrift seines Diktats, verlangte. Trotz etlicher Dramen harrten die Familienmitglieder fünf Jahre in ihrer „insularen Einsamkeit“ mitten im Pazifik aus, bevor sie sich nach dem Tod des Patriarchen in alle Himmelsrichtungen verstreuten. Doch warum blieben die Stevensons so lange in „ihrem selbst gewählten Gefängnis“? Und wie konnte Robert Louis seiner Familie einen so hohen Lebensstandard sichern? Mit solchen Fragen und einer kräftigen Portion Zweifel gelangt Capus zum Kern seiner Vermutung: Hielt es die Familie deshalb so lange auf Samoa aus, weil einer der meist gesuchten Schätze, der Kirchenschatz von Lima, nur eine Tagesreise entfernt, „sozusagen in Sichtweite“, auf der Nachbarinsel lag?

Capus’ Vermutung fußt unter anderem auf der These, dass über hundert Jahre Horden von Abenteurern, Kolonialisten und Aktionären schlichtweg auf der falschen „Cocos Island“ suchten. Die lag über achttausend Kilometer westlich von Samoa vor der Küste Mittelamerikas. Hieß Tafahi, die Nachbarinsel von Samoa, früher nicht auch „Cocos Eylandt“? Hatten beide Inseln nicht ungefähr dieselbe Form und Größe? Und wusste Stevenson aufgrund seiner vielen Reisen nicht wie kaum ein anderer über die Südsee Bescheid? Auf solchen Argumenten und Annahmen versucht Capus seine Thesen zu stützen. Dabei verliert er sich immer wieder in detaillierten Exkursen: Über mehrere Kapitel geht beispielsweise die Geschichte der Schatzsuche auf der „falschen“ Cocos Island. Gerade das macht den Reiz der Lektüre aus. Keiner chronologischen Linearität folgend, hantiert Capus mit Interviewauszügen, Briefen, eigenen Beobachtungen und Thesen, und nach und nach entsteht so ein mosaikartig gebrochenes Bild aus spannenden Details, Einschüben und Exkursen, die sich irgendwann zu einer ganz eigenen Geschichte fügen.

Um eine Beantwortung der Frage, ob Stevenson beinahe ein Jahrzehnt nachdem er „Die Schatzinsel“ verfasst hatte, eine solche tatsächlich fand, geht es in Alex Capus’ Buch eigentlich gar nicht. Vielmehr wird man als Leser auf eine lange Reise über den Pazifik, auf die Inseln mit ihren gestrandeten Glücksrittern, den Kolonialisten, Abenteurern und Schatzsuchern, mitgenommen. Wie nebenbei enttarnt Capus dabei die Schatzsuche als unromantisches Massenphänomen und als eine Geschichte der immer wieder kehrenden Enttäuschung vieler Generationen.

Ironischerweise hat es wie die Stevensons auch Capus mit seiner Familie nach Samoa verschlagen, wie wir im Nachwort erfahren. Sein Versuch, die vermeintliche Schatzinsel Tafahi zu erreichen, scheitert, weil die einzige Fluggesellschaft, die die beiden Inseln verbindet, kurz vor seiner Ankunft auf Samoa Konkurs anmeldet. So kehrt Capus mit seiner Familie ein Jahr später zurück, um das Schicksal der vielen unbeirrbaren und erfolglosen Schatzsucher, die er in seinem Buch beschreibt, zu teilen. Tatsächlich scheint er uns aber mit seinen spannenden und gut recherchierten Exkursen mit einem Augenzwinkern mitteilen zu wollen, dass vielleicht bisher nicht am falschen Ort, sondern schlichtweg der falsche Schatz gesucht wurde. Er muss ja nicht unbedingt aus Gold sein.

Alex Capus: „Das Licht der Sterne“. Knaus Verlag, München 2005, 234 Seiten, 18 Euro