Die Finger im Kopf

Manche Schüler leiden unter Rechenschwäche. Die Betroffenen haben keine richtige Vorstellung vom Mengenbegriff – und sie haben Probleme im Umgang mit der Zeit. Wird die „Dyskalkulie“ rechtzeitig erkannt, gibt es gute Behandlungsmöglichkeiten

VON OLIVER VOSS

Es gibt Menschen, die sich durchs Leben schlagen, ohne richtig rechnen zu können. Doch irgendwann wird ihnen diese Schwäche zum Verhängnis. So erging es auch einer jungen Frau, die ihren Job an der Kasse einer Tankstelle nach kurzer Zeit verlor. Erst da gestand sich die 24-Jährige ihre Rechenschwäche ein und suchte professionelle Hilfe auf. Christel Hanke kennt viele solcher Fälle. Seit sieben Jahren ist sie Vorstandsmitglied des Berliner Landesverbandes für Legasthenie und Dyskalkulie. Ein bis zwei Anrufe erhält sie pro Woche. „In letzter Zeit ist es deutlich mehr geworden“, sagt Hanke. Das liegt auch daran, dass Dyskalkulie, so der Fachterminus für Rechenschwäche, in den letzten Jahren stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist.

Auch die Zahl der Hilfsangebote steigt. In Berlin gibt es seit Beginn dieses Schuljahres das Institut für Rechenschwäche-Therapie (IRT). Der Diplompsychologe Max Richter hat die zweite Einrichtung dieser Art in der Hauptstadt gegründet. Richter geht davon aus, dass drei bis sechs Prozent aller Schüler unter Rechenschwäche leiden. Ein wesentliches Merkmal dafür ist das so genannte „zählende Rechnen“. „Die Kinder stellen sich Zahlen als Reihe vor“, erklärt Richter, „bei jeder Rechnung zählen sie dann rückwärts und vorwärts.“ Matheaufgaben mit Hilfe der Finger zu lösen, ist zwar anfangs eine normale Technik, doch nach der ersten Klasse sollte man nicht mehr darauf angewiesen sein. Einfaches Verbieten hilft dabei nichts, denn die Kinder stellen sich beispielsweise die Finger im Kopf vor. Dies merke man jedoch schnell, sagt Richter. Wenn die Lösung der Aufgabe 9 minus 8 deutlich länger dauert als 4 minus 3, habe man einen Anhaltspunkt dafür, dass das Kind noch zählt. „Entscheidend ist, was der Schüler dabei denkt, wenn er rechnet“, sagt Richter. Um das herauszufinden, muss man mit dem Kind reden.

Schüler die zählend rechnen kommen zwar oft auf die richtigen Ergebnisse, „aber sie haben keine Ahnung, was sie da eigentlich machen“. Wenn die Zählschritte größer und die Aufgaben komplexer werden, bekommen sie Schwierigkeiten. Doch selbst das muss nicht so sein. „Es gibt sehr erfolgreiche Zähler“, weiß Max Richter, „die vollbringen wahnsinnige Leistungen.“ Doch darunter leidet die Konzentration: „Während die Lehrer denken, das Kind träumt, schiebt es vielleicht im Kopf Zahlen umher.“ Mit Ehrgeiz und einem hohen Übungspensum könne man viele Aufgabentypen und Rechenschritte auswendig lernen, ohne sie richtig zu verstehen. „Die Betroffenen entwickeln Strategien, um sich durch die Schulzeit zu manövrieren“, erklärt Christel Hanke. Erst helfen die Finger, später der Taschenrechner. Deshalb könne man Rechenschwäche auch nicht pauschal an den Zensuren festmachen. So war es auch bei ihrem Sohn, der an der Gesamtschule im Schnitt eine Drei in Mathe hatte. „Doch er hat bis heute Probleme im Umgang mit Zeit und Geld“, erzählt Hanke. Früher kam der Sohn oft zu spät, ohne sich dessen bewusst zu sein. „An anderen Tagen kam er total abgehetzt zurück, aber war eine Stunde zu früh.“ Der Junge konnte nicht abschätzen, wie lang fünf Minuten, wie viel eine Stunde ist. Hanke musste früh mehrere Wecker stellen: einen zum Aufstehen, einen zum Frühstücken, einen zum Losgehen.

Das fehlende Zeitgefühl und Schwierigkeiten beim Erlernen der Uhr sind weitere Anzeichen für Dyskalkulie. Die Betroffenen haben keine richtige Vorstellung von Mengen. Auch beim zählenden Rechnen liegt das Problem darin, dass die Kinder die Bedeutung der abstrakten Zahlen nicht verinnerlicht haben. „Sie haben nicht verstanden, dass Zahlen Stellvertreter für Mengen sind“, erklärt Richter.

Erzieher und Lehrer wiederum haben häufig Probleme, rechtzeitig zu bemerken, wer unter Dyskalkulie leidet – das Erkennen und Behandeln von Rechenschwäche ist kein fester Bestandteil ihrer Ausbildung. Da versucht nun auch das Institut für Rechenschwäche-Therapie anzusetzen. „Wir versuchen Lehrer zu sensibilisieren und machen Fortbildungen an Grundschulen“, sagt Richter. Früherkennung sei besonders wichtig, dann könnten die meisten Schüler nach einer Therapie normale Rechenleistungen erbringen. Nur bei einem geringen Prozentsatz liegen neurologische Schäden vor, daher sträubt sich Richter auch dagegen, Dyskalkulie als Krankheit zu betrachten.

Weitere Infos: Berliner Landesverband Legasthenie und Dyskalkulie, www.lvl-berlin.de. Institut für Rechenschwäche-Therapie (IRT), www.irtberlin.de. Am 17. Januar findet im IRT, Brienner Str. 11, ein Informationsabend für Eltern statt. Voranmeldung: Tel. (0 30) 86 39 69 04