Süßer die Glocken nie klingen – Musiktipps aus der Redaktion
: Knoten knoten

Daft Punk: Human After All Broadcast: America’s Boy Saint Etienne: A Good Thing Kelley Polar: My Beauty In The Moon José González: Stay In The Shade Seu Jorge: Rebel Rebel Boards Of Canada: ’84 Pontiac Dream Jan Jelinek: Lemminge und Lurchen Inc. Nicolette: Fire In The Heart Doctor L presents Psyco: Travel 2 Mike Ladd: Nancy And Carl Go Christmas Shopping Jamie Lidell: Music Will Not Last Platinum Pied Pipers: The Look Of Love

Kein Montagmorgentape, keine Best-of-Collection mit Stücken von blinden Musikern, auch keine wütenden Lieder über die Liebe. Die Listen und Sentimentalitäten, mit denen Plattenhändler Rob sich in Nick Hornbys „High Fidelity“ die Zeit vertrieb, sind aus der Mode gekommen. Der DJ mixt ohnehin besser, bei konstant 128 Beats per Minute und in 5.1-Dolby-Surround-Sound, wie zuletzt Ritchie Hawtin. Schöne, endlose Verfeinerung der Form: Klangarabeske und Loop-Architektur. Oder doch wieder mehr Brüche wagen?

Keine Heilsbotschaft jedenfalls, 2005 hatte vor allem lauter lose Enden, aus denen sich prima Knoten knoten lassen. Folk mit Free Jazz war so einer, Laptop-Psychedelik ein anderer, und als Queersumme ergab sich an manchen Abenden in Berlin eine politkulturelle Pop-Multitude powered by Volksbühne – egal welche neokonservative Sau gerade durchs Dorf getrieben wird. Nicht Wertegemeinschaft zählt, stattdessen kommt die Energie aus der Collage. Deshalb passen auch Daft Punk mit ihrem krawalligen Technopunk, der bekiffte Seu Jorge als David Bowie covernder Leichtmatrose aus dem Soundtrack zu Wes Andersons Film „The Life Aquatic“ und ein funky Sly-Stone-Kid wie Jamie Lidell zusammen gut auf eine Festplatte – der Weg ist nach wie vor dem Ziel.

Dazwischen kann man dem britischen Duo Broadcast dabei zuhören, wie es antiamerikanische Electro-Balladen schreibt, die sich trotz der transatlantischen Bedenken ganz gerne an Westcoast-Vorbilder à la United States Of America anschmiegen; kann mit Doctor L und Psyco aus Paris irgendwo im nigerianischen High Life verlorengehen, nur um gleich danach von Mike Ladd über „Negrophilia“ und andere europäische Afro-Obsessionen aufgeklärt zu werden. Überhaupt haben sich viele lustige Körper an den Rändern gebildet: Der New-York-Disco-Cellist Kelley Polar singt in zartem Knabenchorfalsett zu Moroder-Sequenzen, José González zupft auf der klassischen Gitarre die Bassline einer Chicago-House-Hymne. Bei Boards of Canada schwanken Acidheads in verblichenen Super-8-Filmen durch den englischen Garten, und Jan Jelinek hat herausgefunden, in welchem Club die Lemminge von Amon Düül heutzutage tanzen gehen. Die Geschichte knistert, aber verstaubt klingt das nicht. HARALD FRICKE

Ganz tief unten

Tocotronic: Pure Vernunft darf niemals siegen (Superpitcher Maxi Mix) Die Welttraumforscher: Liebe Lilli Stereo Total: Troglodyten DJ Koze aka Adolf Noise: Der Grundton Kevin Blechdom: Run Away Or Stay Planningtorock: Changes M.I.A.: Pull Up The People Egoexpress: Hot Wire My Heart Chikinki: Assassinator Annie: Heartbeat Matias Aguayo: De Papel Devo: Jocko Homo

Mein Pop-Jahr wollte es ganz weit draußen, ganz tief unten, ganz lang vorbei und ganz stark jenseits: Schon ganz zu Anfang erging der Aufruf, sich im Innern zu spalten, das Delirium zu erzwingen, sich den Schatz des Wahnsinns zeigen zu lassen – kurz: Pure Vernunft sollte nicht siegen. Tocotronic brannten mit ihrer Dreivierteltakt-Hymne ein herrliches Zeichen ins noch frische Fleisch von 2005. Da machten die Welttraumforscher gleich weiter, setzten Gestalten wie Leguan Rätselmann in die Spur und ließen sich von Lilli die Blumen zeigen – dekadenalte und endlich wiederveröffentlichte Exzesse der Kindsköpfigkeit, kreiselnd minimale Orbitfloater, die wie angegossen zu Wenzel Storchs Gaga-Film „Die Reise ins Glück“ passten. Im Reisen taten sich Stereo Total hervor – kein Land auf dem kompletten Globus, wo sie im Laufe des Jahres nicht aufgespielt und ihre bislang beste Trashpop-Platte „Do The Bambi“ vorgestellt hätten: Auf in den Untergrund, zu den Höhlenmenschen, das Gesetz der Stille ignorieren!

Eine Idee für ’ne Melodie brachte DJ Koze im Adolf-Noise-Kostüm ein: Ingeniös schwachmatelte er 57 Minuten durch, tremolierte hechelnd mit dem Zwerchfell, klöppelte ein bisschen auf sein Xylophon. Irgendeine Art Exorzismus hatte auch Kevin Blechdom im Sinn, als sie sich auf ihrem Plattenäußeren die Innereien eines Ziegenbocks vor die entblößte Brust hielt und sich im Inneren ganz wundervoll vor Liebespein zerrüttete. Weniger autodestruktiv machte es die Londoner Neuberlinerin Planningtorock und sang mit einem Schamanenstab in der Hand, auf dem ein Pappmaché-Hirn thronte, erschütternd beseelt und durchgeknallt ihre Eine-Frau-Engelschöre: „I’m gonna get what I need.“ Was M. I. A. dafür bekam, dass sie gar nichts wollte außer selbstlos die „people“ ein bisschen hochpullen? Einen Sommerhype. So schön wie sie hatte seit den Cranberries aber auch niemand mehr den Stimmkiekssalto geschafft.

Das wirklich prollige Glück kam erst mit den Dancefloor-Bastarden von Egoexpress zurück: Niemand knarzte, ballerte und filterte besser – und löste dazu noch alle Kadenzen in Dur auf. Als dann Chikinki bewiesen, dass man trotz Gitarrenjungs-Overkill nicht immer an den Jungsgitarren verzweifeln muss – right on! –, und Annie aus Norwegen eine weggespacete Disconummer ohne schwedisches Diebesgut drin machte, konnte der Herbst kommen. Gepflegt runterkommen hieß es bei Matias Aguayo, der als House-Faust die argentinische Cumbia in den Kölner Schaffel einfahren ließ und so den besten Soundtrack für einen zweisamen Abend auf Schlafmohn lieferte. Ach ja: LCD Soundsystem und Franz Ferdinand tauchen bei mir nicht auf. Ich entdeckte 2005 nämlich mit Devo die wirkliche Postpunk-Freakshow. Der Dank dafür geht an die Tiefseetaucher. KIRSTEN RIESSELMANN

So viele Farben!

Mathias Aguayo: De Papel Isolee: Pillowtalk Egoexpress: Aranda (Lawrence Mix) Theo Parrish: Falling Up (Carl Craig Mix) Ame: Rej Booka Shade: Mandarine Girl Mathew Jonson: Return Of The Zombie Bikers Jesse Somfay: This Fragile Addiction Paul Kalkbrenner: Tatü-Tata AFX: Analord 8 Luciano: Octagonal Carl Craig: Sandstorms

Es ist schön, in der Musik Genres zu haben, und noch schöner ist es, wenn die Grenzen zwischen ihnen undeutlich werden. Es hatte sich schon eine Weile angedeutet, aber 2005 war es tatsächlich so weit: Die Grenzen zwischen House, Electro und Techno wurden so durchlässig, dass sich bei vielen Stücken gar nicht mehr eindeutig sagen ließ, im Puls welches Dancefloors sie eigentlich schlugen.

Nun sind Genres ja nicht nur Diskurs- und Einordnungsmaschinen, sie beschreiben auch Funktionsweisen: geben eine Richtung an, wohin ein Stück eine Tanzfläche schieben möchte, was für Gefühle erzeugt werden sollen. Und da erweiterte sich 2005 die emotionale Palette, auf die Tracks zugriffen, ganz enorm: So viele Farben! Dafür muss man gar nicht die beiden Großmeister Carl Craig und Aphex Twin bemühen, die im zu Ende gehenden Jahr auf ganz unterschiedliche Art und Weise zu ihren Kernkompetenzen zurückfanden, der von einem Soulwärmestrom unterspülter New-Wave-House-Sound des Ersteren, seine eigene Spielart von Acid bei Letzterem.

Man konnte auch ein Stück wie Jesse Somfays „This Fragile Addiction“ nehmen, das wie ein harmloser Acidtrack anfängt, um sich dann in etwas hineinzusteigern, das sich anhört wie die Vertonung des so endlosen wie euphorisierten Todeskampfes eines Dinosauriers, der auf Grund einer Speed-Überdosierung an einem Herzkasper stirbt. Oder ein Hit wie Matthew Jonsons „Return Of The Zombie Bikers“: Im Grunde basiert es auf nicht mehr als zweieinhalb geilen Sounds. Doch denen gibt Jonson so viel Raum, dass sie sich in Techno-Wunderwerke verwandeln, die gleich nah an House, Trance und Drum ’n’ Bass siedeln. Oder ganz anders: das lichtdurchflutete „Mandarine Girl“, Trance-House wie ein Sonnenaufgang über dem Alexanderplatz.

Wunderbar. So wird es noch ein wenig weitergehen – bis die Energien dieser Verschmelzungsprozesse erschöpft sind und aus den Hybriden neue Einheiten werden. Dann schlägt wieder die Stunde der Puristen und ihrer Verfeinerungsstrategien.TOBIAS RAPP

Krach und Trauer

Katerine: Louxor j’adore Prototypes: Danse sur la merde The Go! Team: Ladyflash The Organ: Steven Smith Cat Power: The Greatest Sufjan Stevens: John Wayne Gacy, Jr. Mathieu Boogaerts: Dommage Françoiz Breut: Le premier bonheur du jour

Mischung 2005: Zuerst Krach, dann Besinnlichkeit. Philippe Katerine hat in diesem Jahr endlich wieder zu großer Form zurückgefunden und ein Mottoalbum aufgenommen. Es heißt „Robots après tout“ und könnte womöglich eine Veräppelung von Daft Punks „Human After All“ sein. Der Sound: hippe Retrodisco im Stil von 1978. Nur ist Katerine kein Hippster, sondern ganz im Gegenteil. Auf „Louxor j’adore“ gibt er sich als neuer Plastic Bertrand, klingt aber noch tuntiger. Das Stück handelt davon, dass er in einem Klub Platten auflegt und die Leute beim Tanzen beobachtet. Und dann macht er sich einen Spaß daraus, die Platte unvermittelt anzuhalten und die Tanzenden blöd aussehen zu lasssen. An diesen Stellen sind immer fiese Kommentare aus dem Hintergrund zu hören, und Monsieur Katerine lässt die Platte weiterlaufen.

Dazu passt prima der Song „Danse sur la merde“ von den Prototypes, auch sie klingen nach 1978, genauer nach Elli et Jacno. Ihr giftiger Song geht ungefähr so: „Ich weiß selbst, dass aus mir nichts mehr wird – was soll ich mit mir anfangen? Ach, dann tanze ich eben zu der Scheiße, die im Radio läuft.“ Eine sehr gute böse Idee.

Zum Ausgleich darf es dann auch abgrundtief traurig werden. „Wie ich schon sagte, ich weiß, ich bin eine der wenigen, die sich von dir abwenden, Steven Smith“, singt die Sängerin von The Organ so gefasst und so traurig, dass man weiß: Keine trauert so um diesen Steven Smith wie sie. Weniger resolut leidet Mathieu Boogarts in seinem Chanson „Dommage“. Im Refrain klagt er nur still: „O, ist das schade, oh ist das schade.“ Was braucht es mehr Worte?

Und an den Schluss gehört auf jeden Fall Françoiz Breuts Neuversion von Françoise Hardys Klassiker „Le premier bonheur du jour“. Die frühen Alben von Mlle. Breut waren immer ein wenig kalt, hier klingt sie bei allen Störgeräuschen wie die ideale Gute-Nacht-Sängerin.

REINHARD KRAUSE

Alle Titel sind im Fachhandel erhältlich. Der Form halber sei darauf hingewiesen, dass das Ziehen von Raubkopien verboten ist