Menschenrecht vor Handelsrecht

Ein Scheitern der Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation WTO ist aus Sicht der Armen und Hungernden besser als die Umsetzung der Vorschläge von USA und EU

Die WTO darf Staaten nicht Maßnahmen zur Umsetzung von Menschenrechten verbieten

Dass diese Woche bei der Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation WTO keine Abkommen unterzeichnet werden, darüber sind sich alle Beteiligten seit Monaten im Klaren. In ihrem Gepäck führen die WTO-Delegierten der reichen Industrieländer vor allem eines: wohlfeile Entwicklungsrhetorik. Sie soll ablenken vom Misserfolg am Verhandlungstisch und gut Wetter machen für einen Abschluss der Verhandlungen im nächsten Jahr.

Nerven zeigen seit Wochen die Hohepriester der Liberalisierung etwa bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und bei der Weltbank. In ungewöhnlicher Schärfe geißeln sie die vermeintliche Blockadehaltung einzelner nationaler Regierungen. Ein Scheitern der WTO-Verhandlungen würde vor allem den Entwicklungsländern schaden, so ihre These. Die Liberalisierung des Welthandels sei der Schlüssel zur Bekämpfung der Armut.

Wäre das Scheitern der Verhandlungen aus Sicht der Armen wirklich ein Drama? Unter den gegebenen Umständen ganz sicher nicht. Ein Drama wäre vielmehr, wenn sich die Regierungen des Südens von den reichen Ländern des Nordens über den Tisch ziehen ließen. Die Folgen wären schwer wiegende Verletzungen der Rechte auf Nahrung, Wasser und Arbeit. Völkerrechtlich verankert sind sie im Internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte, den über 150 Staaten, die große Mehrheit der Mitglieder der Welthandelsorganisation, ratifiziert haben.

Beispiel Recht auf Nahrung: 80 Prozent der insgesamt 852 Millionen Hungernden leben auf dem Land. Die Ergebnisse der Agrarverhandlungen haben einen direkten Einfluss auf ihre Ernährungsgrundlagen. Bedrohlich ist für die Kleinbauern – die Hälfte aller weltweit Hungernden – vor allem die Forderung der USA nach einer radikalen Öffnung der Agrarmärkte auch im Süden. Nach Berechnungen von Oxfam würde ihr Vorschlag elf Entwicklungsländer zur Senkung ihrer angewandten Zölle für den Reissektor zwingen. Im Falle von Hühnerfleisch wären vierzehn Länder betroffen, von Mais sieben und von Weizen dreizehn Länder.

Die Rahmenvereinbarung des Allgemeinen Rats der WTO vom August 2004 hatte den Entwicklungsländern noch einen Speziellen Schutzmechanismus (SSM) gegen plötzliche Importfluten sowie Ausnahmeregelungen für so genannte Spezielle Produkte (SP) versprochen, die für die Ernährungssicherheit und die ländliche Entwicklung besonders wichtig sind. Selbst davon will die US-Regierung heute kaum etwas wissen. Auch für SP verlangt sie „bedeutende Verbesserungen im Marktzugang“.

Millionen von Kleinbauern und -bäuerinnen wären von dieser Marktöffnung negativ betroffen. Das Agrarabkommen würde es Entwicklungsländern verbieten, sie vor verheerenden Billigimporten und damit vor der Verletzung des Menschenrechts auf Nahrung zu schützen. Dies gilt umso mehr, als weder die EU noch die USA die Bereitschaft erkennen lassen, wirksame Regelungen gegen Dumping zu akzeptieren.

Eine Kopplung von Subventionen an striktere ökologische und soziale Standards und ein Verbot von Exporten unterhalb der Erzeugungskosten stehen nicht zur Debatte. Selbst für die unbestreitbar schädlichen Exportsubventionen weigert sich die EU-Kommission immer noch, ein Enddatum zu nennen.

Blanker Hohn ist es daher, dass die USA und die EU ihre Angebote für den Agrarbereich als großzügige Zugeständnisse verkaufen und von wesentlichen „Gegenleistungen“ der Entwicklungsländer in den anderen Bereichen abhängig machen. Noch aggressiver als in der Landwirtschaft vertreten sie etwa beim Marktzugang für nicht landwirtschaftliche Produkte (Nama) knallharte Exportinteressen der eigenen Konzerne.

Sollten sich die Industrieländer durchsetzen, müssten die Entwicklungsländer nach Berechnungen der indischen Regierung ihren einfachen Durchschnittszoll von derzeit maximal 70 Prozent auf maximal 7 Prozent senken. Eine Welle von Pleiten und Entlassungen in Industrie, Forstwirtschaft und Fischerei von Entwicklungsländern und damit Verletzungen der Menschenrechte auf Arbeit und Nahrung wären die Folge.

In den Verhandlungen um das Gats-Abkommen zum Handel mit Dienstleistungen verlangt die EU, dass Entwicklungsländer neue Liberalisierungsangebote für mindestens 93 von insgesamt 163 Subsektoren vorlegen. Bisher konnten alle Länder die Anzahl und Qualität der Angebote noch selber bestimmen.

Sollte durch den erhöhten Druck in einigen Ländern die Wasserversorgung unter den Hammer kommen, sind neue Verletzungen des Menschenrechts auf Wasser zu erwarten. Erfahrungen bei der Liberalisierung und Privatisierung der Wasserversorgung etwa in Manila und Jakarta haben gezeigt, dass die Wasserversorgung der Ärmsten dadurch schlechter oder unbezahlbar wird.

Gewiss, die WTO ist kein Wohltätigkeitsverein. Die Umsetzung von Menschenrechten ist nicht Aufgabe der WTO, sondern in erster Linie der Staaten. Doch kann es nicht angehen, dass WTO-Regelungen den Staaten Maßnahmen verbieten, die zur Umsetzung von Menschenrechten erforderlich wären. Genau das geschieht jedoch, wenn Entwicklungsländer zur Öffnung ihrer Märkte für landwirtschaftliche und nicht landwirtschaftliche Güter und zur Liberalisierung von Dienstleistungen gezwungen werden.

Millionen von Kleinbauern wären von einer Öffnung ihrer Märkte negativ betroffen

Die Charta der Vereinten Nationen und die Abschlusserklärung der UN-Menschenrechtskonferenz in Wien 1993 haben keinen Zweifel daran gelassen, dass für Staaten die Menschenrechte „erste Pflicht“ sind und Vorrang haben müssen vor allen anderen internationalen Verpflichtungen.

Das Scheitern der WTO-Verhandlungen wäre unter den gegebenen Umständen nicht der heraufbeschworene Super-GAU. Die daraus resultierende Legitimationskrise könnte die Notwendigkeit einer grundlegenden Neuausrichtung von Handelsregeln verdeutlichen. Die zentrale Frage muss sein, wie der theoretische Vorrang von Menschenrechten vor Handelsrechten auch in der Praxis durchgesetzt werden kann.

Notwendig wäre es, die Regierungen zu verpflichten, vor Unterzeichnung und bei der Umsetzung von Handelsabkommen die menschenrechtlichen Auswirkungen zu prüfen. Eine unabhängige, bei der UNO angesiedelte Prüfungsstelle müsste entsprechende Staatenberichte mithilfe von zivilgesellschaftlichen Gegeninformationen evaluieren. Und schließlich müssen neue Mechanismen geschaffen werden, die den Menschenrechtsgremien der UNO genügend Autorität verschaffen, ihre Empfehlungen auch durchzusetzen.

Die Diskussion steht noch am Anfang. Sollen Menschenrechte nicht zur Farce werden und die Absichtserklärungen der Regierungen zur Armutsbekämpfung ein Stück Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, muss die Debatte jetzt dringend beschleunigt werden. ARMIN PAASCH