„Caritas ist Liebe“

Schwester Juvenalis Lammers

„Jeder Tod ist neu. Es ist wichtig, dass ich mittrauere, dass ich auch weine. René, der jetzt gestorben ist, der läuft mir noch ein Stück nach. Es entstehen Beziehungen, wenn man Leute in so einer existenziellen Situation begleitet“

Die 1937 geborene Krankenschwester entschied sich mit 23 Jahren, den Franziskanerinnen beizutreten. Als sie 1988 auf die damals von der Gesellschaft, aber auch der Kirche vielfach ausgegrenzten Aidskranken aufmerksam wurde, reifte in ihr der Plan, einen Hospizdienst für diese aufzubauen. Sie kam 1992 nach Berlin und arbeitete in der stationären und ambulanten Aids-Pflege, um sich auf ihre Aufgabe vorzubereiten. 1997 war sie Mitbegründerin des ersten ambulanten Aids-Hospizes „Tauwerk e.V.“ in der Stadt. Dezember ist Aids-Monat. Ein Anlass, die Bundesverdienstkreuzträgerin zu Wort kommen zu lassen.

Interview WALTRAUD SCHWAB

taz: Schwester Juvenalis, Sie sind Franziskanerin und kümmern sich um Aidskranke. Wie kam es dazu?

Schwester Juvenalis Lammers: Das Schlüsselerlebnis hatte ich im Franziskushospital in Münster. Dort war ich Leiterin einer Männerstation. 1988 kam ein Aidskranker zu uns, weil die Isolierstation, auf die er hätte gebracht werden müssen, belegt war. So lernte ich Thomas kennen. Er sagte, er wäre nie in ein katholisches Krankenhaus mit Nonnen gegangen, wenn er es noch bis zur Uniklinik geschafft hätte. In der Zeit, als er bei uns war, habe ich begriffen, was es heißt, schwul und HIV-positiv zu sein: Man ist ausgegrenzt.

Das hat Sie zum Nachdenken gebracht?

Ich dachte, da stimmt was nicht: Wo Menschen ganz nah zusammen sein sollten, ist eine Kluft. Auch zwischen Kirche und schwulen Männern.

Sie wurden aktiv?

In meiner Mitschwester Hannelore und mir reifte der Plan, in die Aids-Arbeit zu gehen. Das haben wir der Ordensleitung mitgeteilt. Da Berlin eine der Städte ist, wo viele Aidskranke leben, war unsere Gemeinschaft damit einverstanden, dass wir uns dort engagieren. Wir haben dann zwei Brüder kennengelernt, die auch auf dem Weg nach Berlin waren. Mit ihnen haben wir am Anfang in einer religiösen Wohngemeinschaft in Pankow, einem Konvent, gelebt.

Eine religiöse WG – was ist das?

Sie müssen sich das so vorstellen: Wir sind eine Klostergemeinschaft, die dem Leben gegenüber offen ist.

Als Sie anfingen, waren vorwiegend homosexuelle Männer an Aids erkrankt. Auf den ersten Blick wirkt das Zusammentreffen von Schwulen mit einer christlichen Ordensschwester wie Feuer und Wasser.

Wir haben Franz von Assisi als Vorbild. Er ging im 12. Jahrhundert zu den Leprakranken. Die Kirche hielt damals für diese ein Requiem, erklärte sie sozusagen für tot und schickte sie im Einklang mit der damaligen Gesellschaft vor die Stadttore, wo sie sich selbst überlassen blieben. Franz, ein durchaus reicher Junge, stieg von seinem Pferd und umarmte einen von ihnen. Diesen Moment setzt er mit seiner Bekehrung gleich.

Soll heißen, die FranziskanerInnen gucken, wo die Tabus sind?

Da haben wir auch ein bisschen Narrenfreiheit. Es ist eine Herausforderung, sich dem zu stellen, was auf den ersten Blick schwer ist.

Der Krankheitsverlauf von Aids war in den 80er- und 90er-Jahre schnell und schlimm. Sind Sie zwangsläufig zur Sterbebegleiterin geworden?

Ich hatte ja vorher auch auf Stationen gearbeitet, wo Menschen starben. Neu war: Mit Aids wurden junge Menschen mitten aus dem Leben gerissen.

Durch die neuen Medikamente leben die Betroffenen heute länger.

Trotzdem: Ihre Lebensumstände sind hart. Manche müssen am Tag 30 Tabletten schlucken. Heute gibt es ja schon Pillenschachteln mit Wecker. Mitten in einem Gespräch, einem Film klingelt der womöglich. 30 Pillen schluckt man nicht mal eben so runter. Und dann die Nebenwirkungen. Das geht auf die Leber, auf die Niere. Manche werden dement. Die neuen Therapien haben unsere Arbeit verändert. Wir begleiten die Aidskranken viel länger.

1997 gründeten Sie Tauwerk. Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus?

Ich habe zum Beispiel vier Jahre lang einen jungen Mann begleitet. Als ich ihn kennen lernte, konnte er noch laufen. Zu der Zeit ging ich sporadisch zu ihm. Irgendwann wurde er Rollstuhlfahrer, von da an habe ich ihn jede Woche besucht, und wir haben gemacht, zu was er gerade Lust hatte. Mit dem Rolli raus, ins Kino, oder ich war einfach nur da. Dann hat eine Ehrenamtliche seine Betreuung übernommen bis zu dem Zeitpunkt, als er eine Rauchvergiftung hatte und ins Pflegeheim kam. Da sind wir täglich zu ihm. So wie er es brauchte und wie wir es konnten. Auch mit Nachtanwesenheiten bis zu seinem Tod.

Wie oft machen Sie Nachtwachen?

Diese Woche waren wir sechsmal nachts draußen. Wenn wir es verhindern können, soll keiner allein sterben.

Was sind das für Leute, die sich ständig mit dem Sterben konfrontieren?

Die ehrenamtlichen Hospizhelferinnen und -helfer kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen und Schichten.

Sprechen Sie von sich? Warum tun Sie es?

Ich hatte ein Schlüsselerlebnis. Ich war einmal schwer krank und mir war klar, dass ich sterbe. Meine Mitschwester lief noch los, um den Doktor zu holen. Ich lag da und dachte, jetzt stirbst du hier allein und kannst dich von niemandem verabschieden. Das war für mich das Allerschlimmste. Ich hatte keine Angst vor dem Tod, aber zu gehen und Menschen, die ich liebte, dazulassen, ohne mich zu verabschieden, das war entsetzlich. Ich glaube, diese Erfahrung ist der Grund, warum mir so viel daran liegt, dass Menschen nicht allein sterben. Obwohl ich jetzt schon viele Jahre in der Krankenpflege tätig bin, habe ich auch kein dickes Fell bei der Arbeit bekommen. Darüber bin ich sehr froh.

Was wäre ein dickes Fell?

Wenn ich dächte: Oh, da stirbt eben jemand, was soll’s? Ich denke dagegen: Jeder Tod ist neu. Es ist wichtig, dass ich mittrauere, dass ich auch weine. Der René, der jetzt gestorben ist, der läuft mir noch ein Stück nach. Es entstehen Beziehungen, wenn man Leute in so einer existenziellen Situation begleitet.

Sie machen die Arbeit weitgehend ehrenamtlich?

Etwa 12 Prozent der Kosten von Tauwerk werden von den Krankenkassen getragen. Der Rest muss durch Spenden und ehrenamtliches Engagement aufgebracht werden. In unserem Hospizdienst gibt es zwei Hauptamtliche und derzeit 20 geschulte Ehrenamtliche. Zu Letzteren gehöre ich.

Sie tragen bei der Hospizarbeit in der Regel zivile Kleidung. Warum?

Bis 1997 haben wir im Ordenskleid gearbeitet, aber wir haben die Erfahrung gemacht, dass das für viele Leute eine zu hohe Hürde ist. Ich kann mich noch gut an Sätze erinnern wie: Eine Nonne kommt mir nicht ins Haus. Solche Erfahrungen haben zu der Erkenntnis geführt, dass etwas nicht stimmt, wenn unsere Kleidung uns daran hindert, die Menschen zu erreichen.

Da haben Sie so einfach Zivilkleidung angezogen?

Jeder Orden macht alle drei Jahre eine Konferenz, und dort haben wir beschlossen, dass jede Schwester selbst entscheidet, wann sie zivil trägt. Wenn ich zur Aids-Gala gehe, dann trage ich Ordenskleidung, weil mir das wichtig ist, dass Kirche sichtbar ist. Wenn ich zu einem Patienten gehe, für den das eine Hürde darstellt, mache ich es nicht.

Gehören Sie zu einem missionierenden Orden?

Eigentlich nicht. Wir sind ein Orden im heilenden Dienst. Wo immer etwas unheil ist, versuchen wir es heil zu machen. Wir versuchen, Gottes Liebe zu den Menschen zu bringen. Vielleicht bewirkt es was.

Und wie gehen Sie mit atheistischen Sterbenden um?

Vor ein paar Jahren rief hier ein Mann an, ein richtiger Berliner. Er sagte: Ich brauch euch, aber ich bin Atheist, bin schwul, trink jeden Tag 10 Dosen Bier und hab ’nen Hund. Wo ist das Problem, hab ich geantwortet. Den haben wir eineinhalb Jahre begleitet. Ich hab selten einen Atheisten kennen gelernt, der so viel über Gott sprechen wollte. Kurz bevor er starb, meinte er zu seiner Mutter: „Du Mama, wenn es den da oben wirklich gibt, dann sag der Juvi, ich halt ihr ’nen Platz in der ersten Reihe frei.“ Uns ist es nicht wichtig, jemanden zu bekehren, wenn er nicht mehr so stark ist wie ich, sondern ihm zu zeigen: Du bist wichtig für mich.

Wie muss man sich Ihren eigenen Weg in die Ordensgemeinschaft vorstellen?

Ich hab Ordensleute kennen gelernt und fand interessant, was die ausstrahlen. Eine Zufriedenheit. Ich dachte: Probiere es aus. Wenn es dir nicht gefällt, kannst du wieder aussteigen.

Hat es auch etwas mit alternativen Frauenrollen zu tun, denn für Ihre Generation kam ja vielfach noch immer an erster Stelle das Hausfrau- und Mutterdasein in Frage?

Ich bin nach dem Krieg aufgewachsen, und da war es nicht selbstverständlich, dass die Frau einen Beruf hatte. Damals bot ein Orden durchaus Chancen, sich intellektuell, beruflich und gesellschaftlich zu entfalten. Mitschwestern von mir haben das Abitur nachgeholt und dann studiert. Sind Ärztinnen oder was anderes geworden. Ausschlaggebend ist aber die Frage, ob jemand sich zu dieser Lebensform berufen fühlt, weniger die berufliche Perspektive.

Wie ist die Situation Ihres Ordens heute? Kommen junge Leute nach?

Wenig. Wenn es bei mir 30 Frauen waren, die in einem Jahr in den Orden eintraten, ist es heute vielleicht eine. Wir müssen andere Formen anbieten. Die Leute heute sind auch nicht mehr so bindungsfähig wie vor 50 Jahren. Warum soll man deshalb nicht mehr Ordensleben auf Zeit anbieten? Solche Formen werden diskutiert. Es gibt mittlerweile auch Menschen, die mit uns leben und eine Bindung an unsere Gemeinschaft haben, obwohl sie verheiratet sind. Ich habe die Gelübde abgelegt: Armut, Gehorsam, Keuschheit. Sie versuchen diesen Idealen nahe zu kommen, ohne ihre Lebensform aufzugeben. Wir nennen dies Weggemeinschaft.

Da sind wir ja noch bei einem Thema, das mit Ihrer Arbeit zu tun hat: Sexualität. Heute steigen die Aids-Infektionszahlen wieder besorgniserregend. Die Leute sind leichtsinniger geworden. Rückt damit das Thema Sexualität in Ihrer Arbeit mehr in den Vordergrund?

Unbedingt. Wenn wir Ehrenamtliche ausbilden, ist Sexualität und Homosexualität ein wichtiges Thema. Wenn ich mich mit meiner eigenen Sexualität nicht auseinander setze, kann ich es mit Homosexualität schon gar nicht. Außerdem gehen wir in Schulen und machen Aufklärungsarbeit. Es müsste eigentlich nicht sein, dass in Deutschland die Zahlen steigen, aber die Gleichgültigkeit ist so groß. Es ist erschütternd.

Reden Sie mit Jugendlichen direkt über Sexualität?

Schon wenn ich das Wort „schwul“ in den Mund nehme, bleibt denen mitunter die Luft weg.

Wie ernst werden Sie als Ordensfrau genommen, wenn Sie sich zu Sexualität äußern? Herrscht nicht das Bild vor, Ordensleute seien lustfeindlich?

Wenn ich keine Sexualität hätte, dann wäre ich ein Neutrum. Sexualität gehört zum Menschsein. In jeder Lebensform ist es notwendig, die eigene Sexualität in Verantwortung zu leben. Das sieht in Partnerschaften anders aus als im Ordensleben. Mit Ablehnung von Sexualität hat das nichts zu tun.

Sondern womit?

Damit, dass ich als Ordensfrau, als Frau, mein Leben mit Lebensfreude gestalte.

Sind Sie eine sinnliche Frau?

Ich hoffe es. Heute wird alles, was mit Liebe zu tun hat, mit Sexualität gleichgesetzt. Für mich macht es aber einen Unterschied, ob es Sexualität oder Caritas ist. Caritas ist Liebe.

www.hospiztauwerk.de