MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON BRIGITTE WERNEBURG
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Über die Mine

Lukas Einsele: „One Step Beyond. Wiederbegegnung mit der Mine“. Herausgegeben von Catherine David, Witte de With Center für Contemporary Art. Verlag Hatje Cantz, Stuttgart 2005, 192 Seiten, 93 Abb., davon 44 farbig, 29,80 €

Kunst kann auch anders. Sie kann die Partys der Art Basel/Miami Beach ignorieren. Und sie muss sich deshalb noch lange nicht durch verquälte Identitätsfragen als politisch profilieren. Kunst kann tatsächlich aufklären. Sie kann sich engagieren und dabei ein Problem konkret benennen, das sie in verständlichen Aktionen, Analysen und Recherchen darstellt und in die Öffentlichkeit trägt.

„One Step Beyond“ ist ein künstlerisches Projekt, das über Landminen und ihre Opfer berichtet und sie in ein sichtbares und nachvollziehbares Verhältnis setzt – so beschreibt der 1963 geborene Fotograf Lukas Einsele sein Anliegen. Menschen, die von einer Landmine verletzt wurden, erinnern sich hier an ihren Unfall. Im Anschluss an diese Gespräche, die vornehmlich in den am stärksten betroffenen Ländern Afghanistan, Angola, Bosnien-Herzegowina und Kambodscha geführt wurden, porträtierte der Fotograf seine Gesprächspartner mit einer Großbildkamera. Im Tausch für ihren Bericht erhielten sie einen Polaroidabzug des Fotos. Ihre Tonbandaussagen wurden transkribiert und ins Deutsche und Englische übersetzt. Auch die Minen, die die Unfälle verursachten, wurden fotografiert, und die Daten zu Bauart, Funktion, Entschärfung und Herstellerland wurden dokumentiert.

Eine Ausstellung im Witte de With in Rotterdam zeigte Texte, Karten, Videoclips, Fotografien, Zeichnungen und Vitrinen, die mit den Minen bestückt waren. Das begleitende Katalogbuch, das neben Einseles mit künstlerischen Mitteln betriebener Dokumentation erschien, enthält dazu lesenswerte Texte von Autoren, die als Ärzte, Minenräumer, Anti-Minen-Aktivisten oder Journalisten in unterschiedlicher Weise mit dem Problem der Landminen konfrontiert sind.

„One Step Beyond“ ist tatsächlich ein Projekt jenseits des Fotojournalismus und der Reportage. In Lukas Einseles eindrucksvollen Porträtaufnahmen ist das Opfer nicht zu erkennen, wohl aber die Persönlichkeit, die mit einer Waffe getroffen wurde, die noch Jahre nach den eigentlichen Kampfhandlungen den Krieg immer wieder in das inzwischen zivile Leben trägt. Diese grausame Situation eines ruhigen Alltags, der immer wieder von Explosionen erschüttert wird, findet in seinen Bilder von Dorfgemeinschaften, Ärzten, Minenräumern und den Patienten in den Behandlungszentren ihren unheimlichen Nachhall.

Es fehlt ihnen jedes empörte „Seht her!“. Was sowieso viel interessanter ist: Außerordentlich besonnen setzen sie den Betrachter stattdessen auf die Spur der bitteren Wahrheit der Kriegs- und Industriepolitik unserer Welt.

Freundschaft

Ross Feld: „Erinnerungen an Philip Guston“. Mit dem Briefwechsel zwischen Feld und Guston. Kurt Liebig Verlag, Schmieheim 2005, 160 Seiten, 27 Farbabb., gebunden, 29,90 €

„Ich tröste mich damit, dass ich sage, nun ja – Ross ist ein Schriftsteller – er beherrscht das“, kapitulierte der Maler Philip Guston (1913–1980) in einem Brief vor der Brillanz des Schriftstellers Ross Feld (1947–2001), an den er sein Schreiben adressierte. Man versteht Guston sofort. Es ist ein Erlebnis, Ross Feld zu lesen. Zu beobachten, wie er klug über den Maler und dessen spätes Werk nachdenkt, das er sorgsam studiert und auf äußerst lebendige, stets überraschende Weise beschreibt. Durchaus mal mokant, oft erschüttert, immer begeistert.

Das starke Spätwerk Gustons freilich provozierte Leidenschaften. In seinen Anfängen in den Dreißigerjahren – an der Seite Jackson Pollocks – Muralist, hatte sich Guston in den Fünfzigern der Abstraktion zugewandt. Schnell von den richtigen Galerien vertreten, galt er als bedeutender Protagonist des Abstract Expressionism und repräsentierte etwa 1960 die Vereinigten Staaten auf der Biennale in Venedig. 1970 allerdings skandalisierte er die New Yorker Kunstwelt und verprellte Sammler wie Kritik. Vollkommen unvorbereitet sahen sich die Besucher seiner Ausstellung in der Marlborough Gallery mit einer figurativen Malerei von rohem, fast karikaturhaftem, gleichwohl seltsam anmutigem und unleugbar vitalem Charakter konfrontiert.

Dem Schock folgte Schweigen. Als Ross Feld 1975 eine eingehende Auseinandersetzung mit Gustons gegenständlichem Werk veröffentlichte, dankte ihm der kaum mehr beachtete Künstler. Sein Brief markierte den Beginn einer großartigen Freundschaft. Sie ist die Grundlage, auf der Ross Feld sein letztes Buch als unwiderstehliche Mischung aus Kritik, Erinnerung, Biografie, Briefwechsel und Meditation über den Tod verfasste. Seit den Zeiten Vasaris haben Künstler ein Bedürfnis nach Schreibenden, bemerkt Ross an einer Stelle. Nicht so sehr aus Eitelkeit. Sie wissen vielmehr, dass Worte den Bildern eine zusätzliche Lebendigkeit verleihen. Die Schriftsteller „gießen sie um in eine beschreibende Darstellung, die immer und überallhin getragen werden kann“. So gesehen sind die „Erinnerungen an Philip Guston“ ein grandioses Vehikel, in dem Ross Feld seinen Freund, den „schwierigen Menschen“, wie er sagt, und den herausfordernden Künstler bequem und wohl behütet Platz nehmen lässt, um ihn wirklich überallhin zu bringen.

Der Hausfreund

Martin Mosebach: „Du sollst Dir kein Bildnis machen. Über alte und neue Meister“. Verlag Dietrich zu Klampen, Springe 2005, 230 Seiten, 19,80 €

Die Weihnachtsempfehlungen der Feuilletons sind ungeheuer aufschlussreich, weil ungeheuer unoriginell. Jedes Jahr schieben die Redakteure die immer gleichen fünf oder sieben Bücher durch die verschiedenen Empfehlungsrubriken. So geschieht es jetzt auch Martin Mosebach. In der SZ beispielsweise werden seine Kunstbetrachtungen mal als „Einladung zum Denken“ oder als „Eine Liebhaberei“ gerühmt. Sie würden freilich auch in die Kategorie „Hausfreund“ passen.

Denn Mosebach tritt im Haus der Kunst als entschieden zwielichtiger, mit seinen Idiosynkrasien kokettierender Connaisseur und Verführer auf. In deutlich konservativem Duktus bedenkt er lebende und tote Künstler mit dem Lob „echter Meisterschaft“ oder „virtuose Handwerklichkeit“, sofern sie sich vornehmlich in den klassischen Genres von Malerei, Bildhauerei und Zeichnung bewegen und bewegten. Einzig Rebecca Horn und ihre Filmarbeit, Marcel Broodthaers mit seinem „Département des Aigles“, jener durchaus unreinen Sammlung aller möglichen Bilder und Dinge, und Lady Hamilton, deren Schönheit bei Mosebach unter Kunstverdacht fällt, entsprechen nicht dem Schema. Doch er ist ein origineller Kopf und es gelingen ihm entsprechend originelle Funde. Sein großartiger Aufsatz über José Maria Sert jedenfalls versöhnt mit den faden Reflexionen über „The Great American Pin Up“.

Mit dem Malerfürsten José Maria Sert gerät die Gesellschaft ins Blickfeld; die alten Namen und das neue Geld; die Herrscherinnen über Geschmack und Fortune, weil Herrscherinnen jener Salons, in denen noch Proust verkehrte. Wie viele große Künstler des frühen 20. Jahrhunderts war auch Sert Muralist. Allerdings ein Muralist besonderer Art, denn es waren die Wände der Rothschild’schen Schlösser oder des Waldorf Astoria, die er schmückte, auch wenn er im Rockefeller Center den „Amerikanischen Traum“ illustrierte, nachdem Diego Rivera vom Auftraggeber geschasst worden war. Mosebach weiß aber nicht nur das an die Art Basel/Miami Beach gemahnende, glitzernde Treiben reicher Kunstaficionados und ihrer Hofkünstler – deren merkwürdigster Sert gewiss war – treffend zu schildern. Er weiß vor allem Serts Kunst zu würdigen, und das ist nun wirklich „eine Einladung zum Denken“. Man darf sie annehmen.

Bildrecherche

„Kunst und Fotografie“. Herausgegeben von David Compagny. Phaidon Verlag, Berlin 2005, 220 Seiten, 360 Farb- und S/W-Abbildungen, gebunden, 49,95 €Ľwww.phaidon.com

Die nonchalant hingeworfene Bemerkung nimmt für David Compagny ein: „ ‚Atget‘ ist eine Erfindung des Museums.“ Nein, nicht mit der Figur des Fotografen als Autor, repräsentiert durch den Pariser Fin-de-Siècle-Fotografen Eugène Atget, wurde die Fotografie endlich im Kontext der Kunst wahrgenommen und diskutiert. Grund war die Hinterfragung ebendieser Konstruktion, vollzogen im ideologischen Gravitationszentrum der Kunst. Um ihr kritisches Anliegen, ihr Aufbegehren gegen die Gewiss- und Gewohnheiten des kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Überbaus – wie man in den Sechzigerjahren sagte – zu formulieren, griffen die Protagonisten der damals relevanten künstlerischen und sozialen Bewegungen auf die Fotografie zurück. Mit ihrer Hilfe erweiterten Konzeptualismus und Feminismus den Begriff, den man sich künftig von der Kunst zu machen hatte. Dabei geriet das Medium selbst in seine heute beobachtbare, kardinale Position.

„Kunst und Fotografie“ ist zuallererst eine umfangreiche und penible Bildrecherche, dokumentiert in einem acht Kapitel umfassenden Abbildungsteil. Beispielhaft zeigen die hier präsentierten Arbeiten, wie sich die künstlerische Auseinandersetzung mit Erinnerung und Archiv, mit den Spuren von Leben und Arbeit, mit der Stadt, dem Alltag, der Natur, dem Studio, dem massenmedialen Bildangebot oder dem ideologisch geprägten Blick seit den Sechzigerjahren vollzog. In der kurzen Erläuterung, die jedes Bild begleitet, wird diese Auseinandersetzung noch einmal spezifiziert.

Dass der Londoner Fototheoretiker seinen einleitenden Überblicksessay als stupende Theoriegeschichte entwickeln kann, ist maßgeblich dieser genauen Bildrecherche geschuldet, die den Band zu einem echten Nachschlagewerk macht. Sein Essay verbindet eine klare Erläuterung der kritischen Ansätze, Fragen und Problemstellungen mit einer erschöpfenden Fülle von Namen.

Das macht die Künstlerbiografien im Anhang umso wertvoller, auf die eine Bibliografie und ein Register folgen.