Stimmen der Erkenntnis und des Kapitals

Veränderung beginnt mit dem Singen im Chor. Eine gewagte These, die derzeit zunehmend am Theater ausprobiert wird. In Stuttgart entstand so „Kirchenlieder. Ein Chorprojekt“

„Geht es nur noch im Chor?“, fragte der Dramaturg Jörg Bochow im neuen Journal des Stuttgarter Schauspiels in einem Gespräch mit dem Regisseur Volker Lösch. Dieser hat nicht erst seit seinen Aufsehen erregenden Dresdener „Webern“ das chorische Prinzip zu einem zentralen Element seiner Inszenierungen gemacht. Beim Festival Theater der Welt im Sommer fuhren Chöre mit Schiffen durch den Stuttgarter Hafen. Nun wurde das Staatstheater Schauplatz einer weiteren Aufführung, in der ein singendes und sprechendes Kollektiv die Hauptrolle übernimmt: Ulrich Rasches „ Kirchenlieder. Ein Chorprojekt“.

Den Ausgangspunkt für Rasches Projekt hatte die sehr lebendige Tradition von Chören wie auch des Kirchenlieds in Stuttgart dargestellt, sodass sich der Intendant Hasko Weber auch eine andere regionale Anbindung der Theaterarbeit versprechen kann. Gerade der Aspekt, dass Laien ihre Individualität auf der Bühne einbrächten, löse beim Zuschauer Erwartungen nach Authentizität aus.

„Ein Stichwort muss als Erstes fallen: das der Bewegung.“ Mit diesem Zitat von Joseph Beuys aus einem Text über das Ende alter Glaubenslehren und die Suche „nach anderen Erkenntniskräften“ beginnt die Uraufführung „Kirchenlieder. Ein Chorprojekt“. Ein Sprechchor, bestehend aus 16 Mitgliedern des Schauspielensembles, intoniert Ausschnitte aus Hölderlins „Hyperion“, in denen der Dichter die Präsenz des Göttlichen in der Natur zelebriert. Einen harten Schnitt setzen Rezitationen aus Max Webers soziologischer Analyse darüber, wie sich protestantische Ethik und das Wesen des Kapitalismus bedingen.

Immer wieder wird der rhythmische, fast wie ein Mantra anmutende Vortrag der Sprecher von Chorgesang unterbrochen und überlagert. Es sind nur einzelne Liedzeilen, die mit den gesprochenen Texten in Loops verschnitten werden. Aber wie die 33 Stuttgarter Sängerinnen und Sänger der Intellektualität des Wortes die eher intuitive Wirkung der Musik entgegensetzen, das hat beeindruckende Kraft.

Im ersten Moment mutet schon befremdlich an, wie die Kollektive aus Sprechern und Sängern langsam in Kreisen oder Spiralen über die Bühne ziehen, beleuchtet von wechselnden Lichtmosaiken und musikalisch begleitet von einem leise murmelnden repetitiven Minimal-Sound. Das erinnert am ehesten an die Gehmeditation von in Alltagskleider gewandeten Zen-Mönchen. Doch vor allem erschließt sich Ulrich Rasches der Minimal Art verwandtes Projekt als ungewöhnliches Hörerlebnis. Wenn sich aus dem auf Vertrauen auf eine göttliche Ordnung gründenden Wohlklang der christlichen Lieder beispielsweise ein Satz von Max Weber herausschält über das „stahlharte Gehäuse der modernen Wirtschaftsordnung (…), das heute den Lebensstil aller Einzelnen (…) mit überwältigendem Zwang bestimmt“, werden die abstrakten Inhalte der Texte über Glaube, Religion, Menschsein und Kapitalismus in ein sinnlich erfahrbares Muster übersetzt.

Das chorische Prinzip ist ganz offensichtlich das theatrale Mittel der Stunde. Nicht nur Ulrich Rasche, der im vergangenen Herbst ein ähnlich konzipiertes Chorprojekt im Berliner Palast der Republik realisiert hat und 2007 ein weiteres für die Wiener Festwochen entwickeln wird, arbeitet damit. Das Regietheater sucht nach Erweiterungen und Anschlüssen in anderen performativen Formaten. Das zeigt das Interesse an den Textflächen einer Elfriede Jelinek ebenso wie die Tatsache, dass Regisseure wie Volker Lösch oder auch Sebastian Nübling und Jan Ritsema den Verzicht auf individuelle psychologische Figurenzeichnung zugunsten eines im Kollektiv agierenden Ensembles ausprobieren. Auch wenn Theatermoden meist so schnell wieder überholt sind, wie sie virulent geworden sind, birgt das chorische Arbeiten innovatives Potenzial und eine mitreißende Ausdruckskraft.

In der Ausschließlichkeit, mit der Rasche den Chor einsetzt, gerät diese Form allerdings an ihre Grenzen, weil sie eine mehr als einstündige Aufführung nur schwerlich trägt. „Kirchenlieder. Ein Chorprojekt“ ist jedoch ein interessantes Experiment, das den Reaktionen des Publikums nach zu urteilen mehr provoziert und polarisiert als manche herkömmliche Theaterinszenierung. CLAUDIA GASS