Um freie Rede

Prozess gegen den Schriftsteller Orhan Pamuk stellt die Türkei auf die Probe

Nationalisten wollen eine Debatte über die armenische Frage verhindernDie Regierung verhält sich in dieser Auseinandersetzung völlig indifferent

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

„Ich glaube nicht, dass sie mich ins Gefängnis werfen werden.“ Orhan Pamuk, der derzeit berühmteste türkische Schriftsteller, ist auch einen Tag vor Beginn der ersten Gerichtsverhandlung sicher, dass sich die Anklage gegen ihn in Luft auflösen wird. „Von Rechts wegen dürfte dieser Prozess gar nicht erst stattfinden“, ist er überzeugt. Pamuk, der erst im Oktober mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, hat gute Gründe für seinen Optimismus. Die Anklage gegen ihn ist bereits im Vorfeld des Prozesses zu dem Lackmustest für den Stand der Demokratisierung der Türkei geworden. Die EU-Kommission hat offiziell gegen die Anklageerhebung protestiert, und EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn, der unmittelbar nach dem Beginn der Beitrittsverhandlungen am 3. Oktober nach Ankara kam, besuchte Orhan Pamuk demonstrativ. Doch nicht nur die EU-Bürokratie zeigt im Fall Orhan Pamuk Flagge.

Weltweit wurden Protestresolutionen verabschiedet und Solidaritätsadressen verlesen. Erst vor wenigen Tagen haben acht weltberühmte Schriftsteller, darunter die Nobelpreisträger Günter Grass, José Saramago und Gabriel García Márquez, die Einstellung des Verfahrens gegen Orhan Pamuk verlangt. Ein Prozess gegen den Friedenspreisträger sei mit einem Rechtsstaat „absolut unvereinbar“.

Trotz aller Proteste muss sich Orhan Pamuk ab morgen vor dem Bezirksgericht in Sisli, dem bürgerlichen Bezirk Istanbuls, in dem er aufgewachsen ist und in dem sein berühmter Romans „Das schwarze Buch“ spielt, einer Anklage wegen „Herabsetzung des Türkentums“ stellen. Der Grund für diese Anklage ist ein Interview, das Pamuk im Februar dem Zürcher Tagesanzeiger gegeben hatte. Der Stein des Anstoßes waren zwei Sätze: „In der Türkei wurden eine Million Armenier und 30.000 Kurden umgebracht. Darüber spricht niemand, und sie hassen mich, weil ich darüber rede.“

Spätestens seit dieses Interview bekannt wurde, kann sich Orhan Pamuk nicht mehr darüber beklagen, dass über die Armenierfrage nicht geredet würde. Auch schon vorher gab es etliche Publikationen zum Thema, doch nach seiner öffentlichen Feststellung, eine Million Armenier seien ermordet worden, brach geradezu ein Furor von Empörung los. Das nationalistische Lager der Türkei machte mobil und der Schriftsteller wurde als Landesverräter geschmäht.

Die massiven Angriffe auf Orhan Pamuk zwangen dann aber auch die Verteidiger von Meinungsfreiheit und Demokratisierung, deutlich Position zu beziehen. In allen großen Blättern wurde das Recht Pamuks, auch zum Tabuthema armenischer Völkermord Stellung zu nehmen, verteidigt.

Gerade eine offene Debatte über die armenische Frage versucht die nationalistische Rechte nun mit allen juristischen Mitteln und mit wichtigen Verbündeten innerhalb der Justiz zu verhindern. Zu der Klage gegen Orhan Pamuk kamen etliche weitere hinzu. Ein Pilotprojekt war eine Anklage und Verurteilung gegen den Chefredakteur der kleinen armenisch-türkischen Wochenzeitung Agos, Hrant Dink, vor einigen Wochen. Dink war wegen mehrerer Artikel ebenfalls nach dem Paragrafen 301 des Strafgesetzbuches wegen „Herabwürdigung des Türkentums“ angeklagt und im Oktober vor demselben Bezirksgericht in Sisli, vor dem sich nun auch Orhan Pamuk verantworten muss, in erster Instanz verurteilt worden. Vor wenigen Tagen gab Agos bekannt, dass Hrant Dink erneut mit einer Anklage rechnen muss, diesmal wegen Verstoßes des Paragrafen 305, der „Handlungen gegen das grundlegende Wohl der Nation“ unter Strafe stellt. Dink soll in einem Interview von Völkermord an den Armeniern gesprochen haben. Außer Dink sind fünf weitere bekannte Journalisten angeklagt. Sie hatten über ein nach vielen Schwierigkeiten von führenden Intellektuellen abgehaltenes kritisches Symposium zur Armenierfrage positiv berichtet.

In dieser für den Fortgang der Demokratisierung der Türkei entscheidenden Auseinandersetzung verhält sich die Regierung von Tayyip Erdogan völlig indifferent. Während Ministerpräsident Erdogan sich im September dafür einsetzte, dass das kritische Armenien-Symposium stattfinden konnte, unterstützt sein Justizminister, Cemil Cicek, die Hardliner im Justizapparat. Nach Angaben des Anwalts von Pamuk wollte das Gericht dem Justizminister eine juristische Brücke bauen, damit dieser den Prozess einstellten könnte. Cicek hat bislang darauf nicht reagiert. Auch Erdogan wollte seinen Justizminister offenbar nicht dazu anhalten, den Prozess abzusagen. Stattdessen gibt der Ministerpräsident sich wachsweich und ausweichend. Er beklagt die Anteilnahme aus dem Ausland als unzulässigen Druck auf die türkische Justiz und verweist auf die vermeintlichen Doppelstandards der EU. Als er selbst in den 90er-Jahren wegen eines Meinungsdelikts (man hatte ihm islamistische Hetze vorgeworfen) verurteilt wurde, hätte sich in der EU niemand dafür interessiert. (siehe unten)