„Das ist ein Gummiparagraf“

Der Menschenrechtler Sanar Yurdatapan über türkisches Recht und Demokratisierung

taz: Herr Yurdatapan, hat sich mit der Reform des Strafrechts und der Einführung des neuen türkischen Strafgesetzbuches im Frühjahr dieses Jahres die Situation für Schriftsteller und Journalisten verbessert oder nicht?

Sanar Yurdatapan: Das neue Strafgesetzbuch hat zwei eindeutige Verbesserungen gegenüber dem alten Recht gebracht: Die Todesstrafe wurde abgeschafft und in Paragraf 1 des Gesetzes werden nun die Rechte des Individuums gegenüber dem Staat betont. Alle anderen Regelungen, insbesondere die, die im alten Recht die Meinungsfreiheit einschränkten, wurden zwar in den Formulierungen geändert, vom Geist her aber beibehalten.

Sie meinen damit die beiden Paragrafen 301 und 305 des Strafgesetzbuches?

Natürlich. Nach 301 soll Orhan Pamuk jetzt verurteilt werden. Auf dem Papier ist 301 eine Verbesserung gegenüber der Vergangenheit, weil dort bloße Kritik an den herrschenden Zuständen von Strafe ausgenommen wird. Was jedoch noch zulässige Kritik oder aber bereits unzulässige „Herabwürdigung des Türkentums“ ist, obliegt dem Ermessensspielraum zunächst eines Staatsanwalts und dann des Gerichts. Das ist ein Gummiparagraf, mit dem man die Gerichtssäle mit Schriftstellern und Journalisten füllen kann. Noch schlimmer allerdings ist der Paragraf 305, den es in der Form im alten Strafgesetz gar nicht gab. Darin werden „Handlungen gegen das Wohl des Staates“ bestraft. Darunter fällt Spionage, aber auch die Einflussnahme ausländischer Mächte. Wenn beispielsweise eine NGO, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland bekommt – was bei den meisten NGOs der Fall ist – den Abzug der türkischen Truppen aus Zypern fordert, können sie nach diesem Paragrafen verboten werden.

Warum hat die Regierung Erdogan, die doch für die Aufhebung der Beschränkungen der Meinungsfreiheit angetreten ist, solch ein Gesetz dann verabschiedet? Schließlich saß Erdogan selbst einmal wegen eines Meinungsdelikts im Gefängnis.

Die Äußerungen von Erdogan, aber auch von Außenminister Gül und Justizminister Cicek zum Fall Orhan Pamuk zeigen mir, dass diese Regierung mit Demokratie und Meinungsfreiheit tatsächlich nicht viel im Sinn hat. Vor allem Erdogan selbst hat alles vergessen. Er klagt ja immer darüber, dass die hiesigen und die westlichen Menschenrechtsorganisationen für ihn nichts getan hätten, als er angeklagt war und verurteilt wurde. Ich habe ihm jüngst die Petitionen und die Unterschriftensammlungen noch einmal zugeschickt, die wir damals für ihn gemacht haben. Und auch amnesty international hat damals eine „urgent action“ für Erdogan gestartet.

Selbst wenn Erdogan persönlich mit Meinungsfreiheit nichts mehr im Sinn haben sollte, für den möglichen EU-Beitritt der Türkei ist der Pamuk-Prozess doch sehr schädlich?

Ja natürlich, deshalb hätte die Regierung den Prozess auch gerne vom Tisch. Aber der Staat, das sind Teile der Bürokratie, des Militärs und der Justiz, widersetzt sich dem. Dieser in der Türkei so genannte tiefe Staat will keine weitere Demokratisierung, und die regierende AKP kämpft nicht wirklich für Demokratie. Nach außen wollen sie die Helden sein, die die Türkei in die EU bringen, aber in Fragen von Demokratie und Meinungsfreiheit geben sie sich mit Kosmetik zufrieden.

INTERVIEW: JÜRGEN GOTTSCHLICH