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In der Mittelschicht wächst die Furcht vor dem sozialen Absturz – und mit ihr der Hass auf Ausländer, Frauen,Juden und Muslime, kurz: auf das Andere. Das belegt eine neue Studie des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer

Das Ziel der abstürzenden Mittelschicht ist es, den sozialen Abstand durch die Abwertung des irgendwie Fremden zu wahren

VON PHILIPP GESSLER

Hier war das also. Hier wurde der größte politische Deal der vergangenen Jahre ausgehandelt. Hier trat Exkanzler Gerhard Schröder (SPD) bei den Koalitionsverhandlungen seiner Partei mit der Union nach langem Gewürge seinen Machtanspruch an „Frau Dr. Merkel“ ab. Hier, im prachtvollen Barockbau der „Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft“ gegenüber dem Osteingang des Reichstags in Berlin, wohnte ein paar Wochen die Macht der Republik – nun geht es hier um Machtlosigkeit, Orientierungslosigkeit und einen „überwältigenden Kapitalismus“, der nicht zuletzt durch einen „Kontrollverlust von Politik gegenüber dem Kapital“ geprägt ist.

Im „Kaisersaal“ stellt mit diesen Worten der Soziologe Wilhelm Heitmeyer von der Universität Bielefeld dar, wie viel Hass es in Deutschland auf Fremde, Schwule, Frauen, Juden und Muslime gibt – und die schlechten Nachrichten prasseln auf die Zuhörer herunter wie die hunderte gemalten blauen Würfel, die die Decke des Saals zieren. Die vielleicht schlechteste der schlechten Nachrichten vorneweg: Die Fremdenfeindlichkeit steigt in Deutschland seit vier Jahren kontinuierlich an. Über 61 Prozent der Deutschen stimmen heute der Aussage ganz oder eher zu: „Es leben zu viele Ausländer in Deutschland.“ Im Jahr 2002 waren es noch etwa 55 Prozent. Der NPD-Forderung „Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die in Deutschland lebenden Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken“ stimmen über 36 Prozent zu, 2002 waren es noch knapp 27 Prozent.

Heitmeyer und sein Soziologenteam machen für diese Entwicklung vor allem einen Grund aus: Wo in einem Gemeinwesen Gefühle von Machtlosigkeit und die Orientierungslosigkeit zunehmen, wo die Ängste vor dem sozialen Abstieg steigen oder gar immer mehr Menschen tatsächlich sozial absteigen, wo es also zunehmende „Verstörungen“, „Desintegrationsängste“ und negative Zukunftserwartungen gibt – in solch einer Gesellschaft nimmt die Neigung zu, andere, schwache Gruppen wie eben Fremde, Schwule, Juden, Frauen et cetera abzuwerten: „Das machtlose Verzagen gegenüber den Starken in der Gesellschaft ist verbunden mit der Artikulation von Ungleichwertigkeit gegenüber Schwachen“, bilanziert Heitmeyer.

Diese These vertritt der angesehene Wissenschaftler, der seit Jahren für seine Forschungen von privaten und öffentlichen Institutionen für einen Sozialwissenschaftler erstaunlich viel Geld erhält, nicht erst seit heute. Seine kontinuierlichen und repräsentativen Meinungsumfragen aber belegen immer deutlicher, dass sein Konzept stimmig zu sein scheint. Tatsächlich geht das Anwachsen der Fremdenfeindlichkeit einher mit einer Zunahme der Furcht um den Arbeitsplatz, der Angst um die eigene Zukunft und des Gefühls der politischen Machtlosigkeit und gesellschaftlichen Unordnung. Dies können die Forscher anhand von Umfragen belegen. Nur ein Beispiel: Der Anteil der Menschen, die sich als politisch machtlos empfinden, nahm von 2002 auf 2005 um 9 auf 66 Prozent zu.

Hinzu kommt, dass hier nach Ansicht der Forscher das Syndrom der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ greift. Das heißt, etwas überspitzt: Wer Schwule abwertet, mag meistens auch keine Ausländer. Wer auf Frauen herabblickt, hält in der Regel auch nichts von Juden oder Muslimen. Es geht meist um Ängste vor dem Anderen. Das Ziel dabei ist es, den sozialen Abstand durch die Abwertung des irgendwie Fremden zu wahren. Deshalb kann auch der staatstragende Mittelstand den Forschern zufolge leicht dieser Menschenfeindlichkeit verfallen.

Da wird es ganz konkret und politisch: „Die gestiegene Angst vor dem sozialen Abstieg seit der Verabschiedung der gesetzlichen Regelungen um ‚Hartz IV‘ führt“, so die Wissenschaftler, „nur bei Personen in mittlerer Soziallage zu einer Verstärkung der Ablehnung von Ausländern.“ Die politische Mitte unterscheidet sich in Sachen Rassismus, Antisemitismus und Hass auf Obdachlose nicht mehr von den rechts stehenden Menschen. Insgesamt werde die Mitte „ähnlich feindselig“, so die Studie. Die NPD darf trotz ihres Scheiterns bei der Bundestagswahl weiter hoffen, meinen die Soziologen: „Insbesondere soziale Desintegration in Form von Abstiegsängsten und Orientierungslosigkeit haben zur Folge, dass das Potenzial für rechtspopulistische Propaganda gegen Fremde, Juden und für härtere Bestrafungen etc. von 2002 mit 20 Prozent auf 26 Prozent in 2005 angestiegen ist.“

Besonders auffällig ist diese Angst vor dem Fremden und die Abwertung des Anderen gegenüber Muslimen: Die Islamophobie nimmt offenbar zu. Der Anteil der Menschen, die der Aussage widersprechen, dass die muslimische Kultur in den Westen passe, nahm von 2003 auf 2005 von 65 auf 74 Prozent zu. Etwa 60 Prozent der Deutschen glauben, der islamistische Terror finde starken Rückhalt bei den Muslimen.

Übrigens ist es hier an der Zeit, mit drei gängigen Vorurteilen aufzuräumen: Junge Menschen sind in der Regel nämlich weniger islamophob oder fremdenfeindlich als ältere. Je höher der Ausländeranteil in einem sozialen Milieu, „desto weniger Diskriminierungsabsichten werden geäußert“. Und die Christen (siehe Spalte) sind im Schnitt intoleranter und feindseliger gegenüber schwächeren Gruppen als Konfessionslose.

Bleibt die Frage: Was tun gegen die Menschenfeindlichkeit in der Gesellschaft? Wenn es richtig ist, wie Heitmeyer sagt, dass es angesichts einer zunehmenden „Ökonomisierung des Alltags und des Denkens“ immer schwerer wird, Möglichkeiten der persönlichen Anerkennung und „sozialen Kohäsion“ zu sichern – dann, so der Soziologe, brauche es Visionen gegen diesen „überwältigenden Kapitalismus“, der den Sozialstaat immer mehr zerstöre. Könnte diese Vision darin liegen, „mehr Freiheit zu wagen“, wie er in Anlehnung an Willy Brandt zu bedenken gab? Oder könnte es sein, dass diese Freiheit sich vielmehr umkehre in eine „Freiheit zur Abwertung“?

Die Antworten auf diese Fragen, so forderte es Heitmeyer, müssten von der Gesellschaft kommen – und von der Politik, auch wenn diese selbst eben von den genannten „Kontrollverlusten gegenüber dem Kapital“ geprägt sei und nur noch wenig Vertrauensvorschuss für diese Aufgabe genießt: Schon vor zwei Jahren, erklärte der Wissenschaftler, glaubten fast 82 Prozent der Bevölkerung, „dass letztendlich die Wirtschaft und nicht die demokratisch legitimierte Politik entscheidet“. Die Politik muss Vertrauen zurückgewinnen und den Kapitalismus bändigen, denn die Wut gegen beide wird zuerst die Schwachen in der Gesellschaft treffen.