Retro passt!

Der deutsche Grand-Prix-Vorentscheid wartet 2006 mit Altgedientem auf: auch mit Vicky Leandros. Wunderbar!

Die ARD wusste keinen Rat: Gracia schien ihr der Nagel zu ihrem Showsarg. Die Sängerin aus München war in Kiew im Mai Letzte beim Eurovision Song Contest geworden – und Jürgen Meier-Beer, Chef der für diesen Event zuständigen NDR-Unterhaltungsabteilung, musste gehen. Was sollte bloß aus diesem Format werden? Der Versuch war gescheitert, mit Hilfe der Musikindustrie die ganz Jungen für die ARD zu interessieren – und die Alten, abonniert auf Volksmusik, schalteten beleidigt zu Carmen Nebel & Günter Jauch.

Nun hofft man die Lösung gefunden zu haben. Der NDR hat Thomas Hermanns als Moderator angeheuert, die Show auf den 9. März gelegt, den gülden verstuckten Saal des Hamburger Schauspielhauses gemietet und drei Künstler engagiert, die allesamt satt jenseits der Pubertät ihr Alter haben.

Nur drei Acts sollen um das Ticket nach Athen zum Eurovision Song Contest konkurrieren – aber die scheinen handverlesen: Vicky Leandros, Thomas Anders (die Stimme von Modern Talking) und Olli Dittrich, der mit einer Band namens Texas Lightning auftritt. Eine hübsche Mischung: ein Grimme-Preis-dekorierter Comedian und insofern ein Antipode zu den Zlatko-Skandalen einstiger Grand-Prix-Tage, ein Dieter-Bohlen-geläuterter Mann aus den Achtzigern, der „Formel I“ nachspielt – und die Leandros, die ja schon 1972 die Eurovision gewann („Après toi“).

Zusammen haben sie knapp 150 Lebensjahre auf den Schultern und sind nur als vitale Zeugnisse einer ästhetischen Retrobewegung zu begreifen. Erwachsener Pop, dessen Strahlkraft nicht allzu angestaubt wirkt – und ein Stand-up-Sottisenreißer, der der ARD geeignet scheint, um sowohl die Alten zu bedienen als auch die Menschen mit ARD-Info-Bewusstsein. Obendrein würdigt das Konzept die Grand-Prix-Kultigkeiten früherer Jahrzehnte – und davon weiß die Leandros, die heutzutage ja stets ein wenig die Aura der späten Nancy Reagan verkörpern möchte, genug. Schon 1967 war sie erstmals bei der Eurovision dabei, in Wien: Als junge, schöne Griechin in Diensten Luxemburgs sang sie „L’amour est bleu“.

1967 – das war zugleich die Ära der Großen Koalition. Und auch das ergibt Sinn: die Leandros als Freundin der Union, Thomas Anders als Sinnbild für das popmusikalisch Gesamte und Dittrich als Fellow der Sozen – dieser Grand-Prix-Vorentscheid ist die Show zur großen Koalition in Berlin. Ein wenig Retro, ein wenig familiärer Glamour, ein bisschen Frieden mit allem und auch dies: eine Notlösung, die ziemlich schick werden könnte. JAF