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: „Ein letzter Sommer“, das bewegende Debüt des 1996 verstorbenen amerikanischen Schriftstellers Steve Tesich

Wie die Slogans sich über die Jahrzehnte hinweg doch gleichen! Der kleine alte Mann, der auf seinem Rednerpult energisch herumfuchtelt, könnte glatt das Vorbild für die „Du bist Deutschland“-Kampagne geliefert haben. „Ihr seid die führenden Köpfe der Zukunft; die zukünftigen Wissenschaftler, die zukünftigen Künstler, Architekten, Ingenieure“, ruft er den in der Aula versammelten High-School-Absolventen des Jahrgangs 1961 zu. Benjamin Franklin? Edison? Ford? „Ihr seid es selbst!“

Doch so viel Zuversicht kommt nicht bei allen jugendlichen Zuhörern gut an. „Der ist schlimmer als optimistisch“, stöhnt Larry, einer der Schüler. „Optimist“ gehört für die drei Freunde Larry, Billy und den Icherzähler Daniel Price, die gerade die Schule abgeschlossen haben, zu den schlimmsten Schimpfwörtern. Mit dem Zeugnis in der Tasche stehen sie da und wissen nichts mit sich anzufangen. Es ist der letzte Sommer in Freiheit, bevor der so genannte Ernst des Berufslebens beginnt. Während Larry, der Vorstadtrevoluzzer, seinen ganz privaten Aufstand probt und der lethargische Billy allmählich in die verhasste Erwachsenenwelt abdriftet, versucht Daniel immerhin, positiv zu denken.

Doch plagen ihn, der von seinem launischen, verzweifelten Vater von jeher mit sadistischen Sprüchen gequält und als klassischer Verlierer abgestempelt worden ist, tiefe Selbstzweifel. Als er sich in die schöne, rätselhafte Rachel verliebt, scheint das erste Mal so etwas wie Hoffnung in seinem Leben auf. Der „Zustand liebesbedingter Euphorie“ aber ist kurz. Schon bald drückt ihn wieder das Leid des Vaters nieder, der unheilbar an Krebs erkrankt ist. Einerseits möchte Daniel sein erstes Liebesglück genießen, andererseits verspürt er Schuldgefühle, weil er insgeheim gar den Tod des Vaters herbeisehnt. Auf bewegende Weise gelingt es Steve Tesich in seinem 1982 erschienenen, erst jetzt ins Deutsche übersetzten Debütroman, den Lebenszwiespalt des jungen Daniels darzustellen. Meisterhaft beherrscht der 1942 in Jugoslawien geborene und vor knapp zehn Jahren verstorbene amerikanische Autor, der unter anderem das Oscar-gekrönte Drehbuch zu „Garp und wie er die Welt sah“ verfasste, die Technik spannungsreicher Dramaturgie. Die Szene, in der Daniel seinen Gift sprühenden Vater im Rollstuhl auf den Bahngleisen stehen lässt und ihn erst im letzten Moment vor dem nahenden Zug wegreißt, nur um einen verirrten Hund zu retten, ist dramatisch, komisch und atemberaubend zugleich.

Diese Mischung aus tief empfundenem Schmerz und trockenem Humor hebt das Buch weit über die üblichen Pubertätsdramen hinaus. Der distanzierte Blick, mit dem Daniel das triste Chicagoer Vorstadtleben zu Beginn der Sechzigerjahre beschreibt, hat etwas Entlarvendes und Trauriges zugleich. In dieser von Arbeit und den Gesetzen der Ökonomie beherrschten Welt, in der einzig das Fernsehen für Abwechslung sorgt, bringt Daniels Mutter, eine eingewanderte Jugoslawin, mit ihren düsteren Ritualen und Wahrsagereien einen Hauch von Exotik. Erst allmählich beginnt Daniel die seltsame, von Hass und Zuneigung geprägte Beziehung seiner Eltern zu begreifen. Immer deutlicher erkennt er die Parallelen zwischen der enttäuschten Liebe, die den Vater in den Zynismus getrieben hat, und seiner eigenen Liebessehnsucht: „Je weniger ich sein wollte wie er, desto mehr wurde ich wie er.“

Um dem Schicksal des Vaters zu entkommen, ergreift er die Flucht: Im fernen New York fängt er unter anderem Namen noch einmal ganz von vorne an, allerdings ohne die Hoffnung, seine verlorene Liebe wiederzugewinnen oder gar aus den schmerzhaften Ereignissen des zurückliegenden Sommers etwas für das weitere Leben zu lernen. Die Einsicht, dass gerade in dieser Hoffnungslosigkeit die Zuversicht liegt, macht ihn zum wahren Optimisten. MARION LÜHE

Steve Tesich: „Ein letzter Sommer“. Aus dem Amerikanischen von Heidi Zerning. Kein & Aber, Zürich 2005, 492 Seiten, 22,80 Euro