Der gute Riese

„Der behandelt seine Leutenicht wie eine Nummer, und die Ausbildung bei dm ist beispielhaft“,sagt der Gewerkschaftler

VON PHILIPP MAUSSHARDT

„Haben Sie den Goethe?“ Aber natürlich hat Häußner den Goethe. Unter den Arm geklemmt hat er ihn, mehr als 100-mal. Es kann also losgehen: Mittwoch, den 23. November, 15.45 Uhr. Professor Götz W. Werner schlüpft in den Mantel und läuft schnellen Schrittes vom „Institut für Entrepreneurship“ zum Redtenbacher-Hörsaal hinüber, Ludwig Paul Häußner, sein Assistent, dicht hinterher. „Unternimm dich selbst“ steht auf dem Vorlesungsplan, und fast 200 Studenten der Universität Karlsruhe warten schon, was er ihnen heute wohl erzählen wird, dieser außergewöhnliche Professor.

Professor Götz W. Werner – wobei das W. wahrscheinlich für „Wunder“ steht – hat selbst nie eine Universität besucht. Er hat nicht einmal Abitur. Und doch lehrt er auf besonderen Wunsch der Universitätsleitung in Karlsruhe seit mehr als einem Jahr in einem eigenen Institut, wie man erfolgreich ein Unternehmen führt. Werner ist gelernter Drogist. Er hat als 17-Jähriger in der Drogerie seines Vaters die Regale aufgefüllt, und wie es damals noch üblich war, manche der Reinigungschemikalien noch selbst angerührt. Heute gehören ihm weltweit mehr als 1.600 dm-Drogeriemärkte, und in seinem Unternehmen beschäftigt er über 23.000 Mitarbeiter. Schon falsch: „Kollegen“ würde Werner sie nennen. Es ist eben alles ein wenig anders in den dm-Drogeriemärkten.

Immer mittwochs tauscht Werner den Firmensitz in Karlsruhe mit dem kleinen Institut an der Universität aus, dessen Leiter er ist. Heute erzählt Werner den Studenten etwas darüber, wie man als Chef eines kapitalistischen Unternehmens zum Erfolg kommt: „Sie müssen zunächst einmal in der Lage sein, zu lieben“, sagt er, „das brauchen Sie für alle Entscheidungen im Leben.“ In den ansteigenden Sitzreihen wird es etwas unruhig. Manche schreiben den Satz mit, andere schauen ihren Nebensitzer an. Vor allem als der Professor da vorne auch noch wissen will: „Wer von Ihnen hatte schon Erfahrung mit Narkotika?“, kommt Bewegung in die Zuhörer. Alle lachen, nur einer traut sich: In der dritten Reihe meldet sich einer. „Gut, beziehungsweise schlecht“, sagt Werner. „Hüten Sie sich lieber davor, Ihr Bewusstsein zu trüben. Kein Rausch bleibt langfristig ohne Folgen.“ Selbstbestimmung, Selbsterziehung, Gewöhnlichkeit, Persönlichkeit. Der Mann vorn am Pult spricht frei, ohne Manuskript, jongliert mit Begriffen, malt wilde Kurven mit Kreide an die Tafel, springt vom Hölzchen aufs Stöckchen und unterbricht auf einmal seinen Redefluss, um in seinem badischen Dialekt zu fragen: „Warum erzähl isch Ihnen des?“

Ja, warum eigentlich? Der Milliardär Götz Werner könnte sich wie die Aldi-Brüder auf den Golfplatz zurückziehen oder wie sein härtester Konkurrent Anton Schlecker auf das Ausquetschen seiner Mitarbeiter konzentrieren. Mehr als 3 Miliarden Euro Umsatz im vergangenen Jahr. Die achthundertste Filiale in Deutschland eröffnet. Umsatzsteigerungen von fast zehn Prozent – das Geschäft läuft gut in den dm-Drogeriemärkten. Selbst die Gewerkschaft – und da hört man fast schon Bedauern heraus – hat nicht wirklich etwas auszusetzen: „Der behandelt seine Leute nicht wie eine Nummer“, sagt Bernhard Franke von Ver.di, „und die Ausbildung bei dm ist beispielhaft.“ Thomas Schark, der für die Gewerkschaft im Aufsichtsrat des Unternehmens sitzt, meint den Unterschied zu anderen Drogeriemarkt-Ketten und Discountern erkannt zu haben: „Schlecker misstraut seinen Mitarbeitern, dm vertraut ihnen.“

Tatsächlich ist der Vergleich zwischen Schlecker und dm wie der zwischen Holzkohle und Flugzeugbenzin. Beides brennt. Ansonsten haben sie wenige miteinander gemein. „Ich rede nicht über Mitbewerber“, sagt Götz Werner und tut es doch indirekt, wenn er über sein Weltbild und seine Form der „Menschenführung“ spricht. „Jeder Mensch will gerne Verantwortung für sich und andere übernehmen. Man muss es ihm nur zutrauen und ihn seine Fähigkeiten entwickeln lassen.“ In dm-Märkten sind Mitarbeiter weitgehend selbstständig in ihren Entscheidungen, teilweise bis hin zur Preisgestaltung und zum Umfang des Sortiments. Dienst- und Urlaubspläne machen sie selbst. Wer neu eingestellt wird, entscheiden die „Kollegen“ mit. In Schlecker-Filialen gibt es häufig nicht einmal ein Telefon aus Angst vor Missbrauch, und in einem Zeit-Interview äußerte Anton Schlecker kürzlich den Verdacht, dass seine Mitarbeiter ihn bestehlen.

Götz Werner war 29 Jahre alt, als er 1973 seinen ersten Selbstbedienungs-Drogeriemarkt in Karlsruhe eröffnete. Das von ihm entwickelte Konzept – kompetente Beratung, niedrige Preise – hatte er zuvor seinem Arbeitgeber vorgeschlagen, doch der hatte abgewunken. Inzwischen ist Werners ehemaliger Chef längst vom Markt verschwunden, Werner aber expandiert und expandiert. Im kommenden Jahr will er vor allem in Norddeutschland wachsen, wo es in den vergangenen Jahren zwischen ihm und seinem Konkurrenten Dirk Rossmann aus Hannover offenbar ein Stillhalteabkommen gab: Rossmann dehnte sich nicht nach Süden aus, und dm verzichtet im Gegenzug auf eine Expansion in den nördlichen Bundesländern.

Doch die Zeit der Zurückhaltung ist vorbei: Nachdem im bis dahin dm-freien Berlin vor zwei Jahren neu zugezogene Bürger per Unterschriftenliste einen dm-Markt forderten, möchte Werner auch den Rest der Republik mit seinen ökologischen Lebensmitteln und den typischen Drogerieprodukten beglücken. Bis Ende kommenden Jahres will dm um rund 100 neue Filialen in Deutschland wachsen.

Im dm-Markt in Kirchentellinsfurt steht Helga Bräutigam und sortiert die entwickelten Fotos in das Abholregal ein. Seit fünf Jahren arbeitet sie in der süddeutschen Filiale, und ohne sich bei einem Vorgesetzten abzusichern, beantwortet sie bereitwillig Fragen in den Schreibblock: „Ich habe mich als Verkäuferin noch in keinem anderen Betrieb so wohl gefühlt. Wir arbeiten hier zu fünft und wechseln uns in allen Aufgaben immer ab. So wird es keinem langweilig.“ Dass Kontrolle besser als Vertrauen sei, hält Werner schon immer „für einen großen Unsinn“. Irgendwann in den 90er-Jahren schaffte er die Ebene der Gebietsverkaufsleiter ab und gab den unteren Ebenen bis hin zu den Filialleitern mehr Verantwortung. „Filialen an die Macht“, war sein Credo, und den inzwischen rund 700 Lehrlingen pro Lehrjahr verordnet er mindestens eine Woche lang Theaterseminar, „damit sie lernen, sich selbst und ihre Umwelt besser zu begreifen“. Lehrlinge, die Szenen aus Goethes „Faust“ geprobt haben, weiß Werner, „sind bessere Verkäufer“.

„Sie müssen zunächst einmalin der Lage sein, zu lieben, das brauchen Sie für alle Entscheidungen im Leben“, sagt Werner

Dass der Mensch ein gutes Wesen ist, das liegt auch der Überlegung zugrunde, mit der Götz Werner in den vergangenen Wochen per Zeitungsanzeige für eine radikale Steuerreform in Deutschland warb. Jedem Bürger ein garantiertes monatliches Grundeinkommen von etwa 1.500 Euro. Alle einkommensbezogene Steuern abschaffen und nur noch den Konsum mit einer hohen Mehrwertsteuer belegen. Die Befreiung von der erzwungenen Lohnarbeit würde die kreativen Kräfte in jedem Einzelnen wecken und zu einem neuen Begriff von Arbeit führen. „Viele Menschen werden den Sinn in ihrer Arbeit wieder entdecken. Denn niemandem ist verwehrt, über das Grundeinkommen hinaus tätig zu werden und weiteres Einkommen zu erzielen – nur der Zwang fällt weg“, sagt Werner.

Die wundersame Wandlung vom Allerweltsdrogisten zum einzigartigen Unternehmer („von der Gewöhnlichkeit zur Persönlichkeit“) geschah bald nach der Gründung von dm im Jahr 1976 an einem Samstagnachmittag. Ein Freund hatte Götz Werner zu einem Vortrag in die Schweiz mitgenommen. Der Referent Helmuth ten Siethoff war ein Anhänger der anthroposophischen Lehre Rudolf Steiners. Werner gefielen die Gedanken. Er kaufte sich das Buch „Die Philosophie der Freiheit“ – von diesem Moment an sah er die Welt aus anderen Augen. „So wie ich mit meinem Mitarbeitern umgehe, so gehen sie mit den Kunden um“, sagt er, „jeder kann in seiner Einflusssphäre die Welt verändern.“

Und je mehr Verantwortung Werner an seine Mitarbeiter abgab, desto größer wuchs die eigene Freiheit. Heute ist Werner nicht mehr jeden Tag in der dm-Zentrale. Seine sieben Kinder (von zwei Frauen) sehen ihn heute mehr als früher. Sein ältester Sohn sitzt mit 33 Jahren bereits im Aufsichtsrat des Unternehmens und könnte wohl die Nachfolge antreten, wenn sich Werner, wie angekündigt, 2008 zurückzieht.

Werner hat seinen Studenten den kopierten Goethe zur gefälligen Mitnahme aufs Pult gelegt: Kein Diagramm mit Balken und Zahlen, keine Umsatzsteigerungskurve und auch nicht die letzte Bilanz der dm-Märkte. Stattdessen Gedichte. „Nehmen Sie das mit, und denken Sie mal darüber nach.“ Goethes Verse aus „Die Geheimnisse“ enden mit: „Von der Gewalt, die alle Wesen bindet/ Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.“

www.unternimm-die-zukunft.de;www.archiv-grundeinkommen.de;www.netzwerk-grundeinkommen.de;www.iep.uni-karlsruhe.de;www.dm-drogeriemarkt.de