Die neoliberale Falle

Unternehmer sollen Anstand zeigen und keine Leute entlassen, fordern nicht nur Linke. Das ist unpolitisch: So kommt es nie zu Gerechtigkeit, die Chefs können sich freuen

Selbst Linke glauben heute, dass Betriebs- und Volkswirtschaft identisch seien

Die Öffentlichkeit ist empört. DaimlerChrysler streicht 8.500 Stellen, die Telekom gleich 32.000. AEG wandert von Nürnberg nach Polen und hinterlässt 1.750 Mitarbeiter ohne Job. Der Reifenhersteller Conti schließt einen Standort in Hannover, 320 Arbeitsplätze entfallen. Dabei konnte der Konzern schon in den ersten neun Monaten einen Rekordgewinn von 1,2 Milliarden Euro melden.

Neue Meinungskoalitionen bilden sich. Ulrich Greiner in der Zeit ist so entsetzt darüber wie die Bild-Zeitung, dass Firmen Stellen reduzieren, obwohl sie Gewinn machen – nur um ihre exorbitanten Erträge noch weiter zu steigern. Allseits wird „Anstand“ bei „den Unternehmern“ vermisst. Eine Gegenstrategie gibt es ebenfalls: Auch taz-Leser rufen zu Kundenboykotten gegen die ruchlosen Firmen auf.

Sie meinen es alle gut. Doch ohne auch nur zu stocken, eilen Linke und nicht so linke Empörte in eine neoliberale Falle. Die Enttäuschten regen sich zwar über einige Chefs ohne „Anstand“ auf, aber das tun sie nur, weil sie an den guten Unternehmer glauben, der für Gerechtigkeit sorgen soll. Der Staat kommt nicht mehr vor – das ist genau das FDP-Konzept. Der moralische Appell an die Firmenchefs ist eine Entpolitisierung, die hochpolitisch ist. Die Mächtigen profitieren, wenn man sie für allmächtig hält.

Zudem läuft die Empörung ins Leere: Moral kann sich nur gegen Täter richten. Doch wer sind „die Unternehmer“? Sie sind nicht fassbar. Beispiel DaimlerChrysler: Wie die Homepage ausweist, gehörte der Konzern am 31. Juli zu 6,9 Prozent der Deutschen Bank und zu 7,2 Prozent dem Emirat Kuwait. Der Rest war Streubesitz: Privatinvestoren hielten 25 Prozent, institutionelle Investoren 60,9 Prozent. Der Firmenchef ist heute nicht mehr der Besitzer, sondern ein Manager. Was die Linken wie einen Klassenkampf zwischen Arbeitnehmern und Eigentümern inszenieren, ist tatsächlich ein Ringen zwischen abhängig Beschäftigten.

Dieser Kampf ist sinnlos. Auch sonst ist der Gegner verstörend uneindeutig: Der Reichtum ist zwar extrem ungerecht verteilt. Trotzdem gehören die großen Firmen nicht mehr nur anonymen Milliardären, die lässig beim Golf ihre umfangreichen Depots verwalten. Der weltweit größte Aktienfonds ist der Pensionsfonds der öffentlichen Bediensteten in Kalifornien. Darauf hat der Unternehmensberater Roland Berger zu Recht hingewiesen (taz vom 17. 12.). Wenn Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank, Renditen von 25 Prozent anpeilt, dann profitieren auch viele Kleinanleger. Sie sind genauso anspruchsvoll wie Großkunden – auch der normale Angestellte sucht seine Lebensversicherung nach der Ertragstabelle aus.

Widersinnig sind auch die Boykottpläne, mit denen abwandernde Firmen abgestraft werden sollen: Diese „Kauft deutsch“-Kampagne hat etwas Nationalistisches. Vor allem aber wird ignoriert, dass Deutschland 2005 schon wieder absoluter Exportweltmeister ist. Wir führen weit mehr Güter aus, als wir einführen – und verlagern damit Arbeitslosigkeit in andere Länder. Da ist es volkswirtschaftlich nur fair, wenn dieser Effekt zumindest ein wenig korrigiert wird, indem deutsche Firmen gelegentlich Jobs ins Ausland umschichten.

Aber diese Globalsicht dringt nicht durch; viel stärker beeindrucken die Fernsehbilder, die verzweifelte AEG-Mitarbeiter in Nürnberg zeigen. Sie haben ein Recht auf Wut und Trauer, und sie haben ein Recht darauf, von der Gesellschaft mehr zu erhalten als nur Hartz IV. Doch die bittere Ironie ist: Solange die empörten Fernsehzuschauer nur gebannt auf Einzelfirmen starren und Manager anklagen, wird es nie gelingen, den gesellschaftlichen Reichtum gerechter zu verteilen.

Es ist keine harmlose Nostalgie, sich „die Wiederkehr des alten Patriarchen zu ersehnen“ (Greiner). Denn der moralische Appell an die Unternehmer wirkt paradox. Er erscheint wie eine ultimative Drohung, doch gleichzeitig formuliert er eine Heilserwartung, die den Kapitalbesitzern grenzenlosen Einfluss zuschreibt. Die Empörten haben vergessen, dass für das Volkswohl nicht die Bosse zuständig sind – sondern die Parlamentarier. Selbst Linke glauben heute, dass Betriebs- und Volkswirtschaft identisch seien. Sie vertrauen derart inniglich auf die Firmenchefs, dass sie vergessen, dass man ruhig die Unternehmensteuern erhöhen könnte. Stattdessen trachten sie danach, die Manager moralisch zu läutern.

Dabei berufen sich die Empörten gerne auf Artikel 14 des Grundgesetzes, der im zweiten Absatz dekretiert, dass „Eigentum verpflichtet“. Allerdings macht der erste Absatz klar, dass es ein Missverständnis wäre, zu glauben, dass damit vorrangig der moralische Appell an einzelne Unternehmer gemeint wäre, der von engagierten Bürgern ausgesprochen wird. Oder von der Bild-Zeitung. Stattdessen formuliert der erste Absatz, welche „Schranken“ es für das Eigentum gibt – die durch „Gesetze bestimmt“ werden. Mit diesem Absatz werden übrigens so unterschiedliche Eigentumsbeschränkungen wie der Umweltschutz, der Arbeitsschutz oder auch die progressive Einkommensteuer begründet. Artikel 14 ermächtigt also den Staat, das Parlament, nicht selbst ernannte Moralisten. Warum können selbst Linke damit nichts mehr anfangen, obwohl dies urlinkes Gedankengut ist?

Vielleicht lässt sich diese merkwürdige öffentliche Empörung damit erklären, dass die Fronten so unübersichtlich sind. Die Bürger kommen mit ihren vielfältigen Rollen nicht mehr zurecht. Als Kunde profitieren sie vom gnadenlosen Wettbewerb; als Anleger freuen sie sich über Kurssprünge und hohe Dividenden. Doch als Angestellte sind sie Opfer dieser Trends – ihre Löhne stagnieren, ihre Jobs könnten eingespart werden.

Die Mächtigen profitieren, wenn man sie für allmächtig hält

Diese Zerrissenheit wird noch zunehmen. Auch durch politische Maßnahmen, die von fast allen gewünscht sind. So würden 85 Prozent aller Bundesbürger ihre Rente am liebsten weitgehend privat ansparen. Wieder sagt der Instinkt: Bloß keine Lösungen vom Staat erwarten, etwa eine steuerfinanzierte Altersvorsorge. Doch die Privatisierung würde die Pensionsfonds weiter aufblähen, die schon jetzt den rabiaten Renditekurs der Aktiengesellschaften bestimmen – siehe DaimlerChrysler.

Dieser unreflektierte Instinkt lässt sich politisch bestens ausnutzen. In den Vereinigten Staaten will Präsident Bush die Renten ebenfalls privatisieren. Sein Chefberater Grover Norquist fühlt sich so sicher, dass er die Motive sogar öffentlich erläutert: „Wenn wir mehr Leute zu Investoren machen, dann schaffen wir mehr Republikaner und weniger Demokraten.“ Denn Kleinanleger reagieren wie Großaktionäre: Sie werden konservativ. Wer also nicht als staatsferner Neoliberaler enden will, sollte etwas selbstkritischer sein. Es ist absurd, gegen den mangelnden Anstand von Unternehmern zu wettern – wenn es doch wahrscheinlich ist, dass der Kritiker indirekt selbst dieser Unternehmer ist.

ULRIKE HERRMANN