Das freigebige Medium

Beiläufige Notizen von der Wirklichkeit: Seine große Retrospektive im Münchner Haus der Kunst zeigt Lee Friedlander als einen Fotografen, der dem schnöden Zufall wesentliche Informationen entreißt

Spontaneität und das Vergnügen, Erfahrungen festzuhalten, die sich in einer Hundertstelsekunde in einem sehr begrenzten Raum ergeben: Lee Friedlander ist der Fotograf des zufällig Gleichzeitigen. Seine Schwarzweißbilder zeichnen sich durch eine unglaubliche Dichte der Informationen aus. Die Facetten eines Augenblicks, durch Reflexion des Entgegengesetzten in Schaufensterscheiben und Autorückspiegel geistreich und häufig auch witzig bereichert, sind Friedlanders Thema. Es macht einfach Spaß, in seinen beiläufigen Notizen von der Wirklichkeit amerikanischen Lebens nach dem Impuls zu forschen, der dazu führte, dass der Fotograf den Auslöser seiner Kamera genau in diesem einen Moment drückte.

Friedlanders Werk vermittelt wache Neugier. Neugier auf das Unvorhergesehene, auf die erstaunlichsten Koinzidenzen eines ansonsten ganz banalen Lebens. Das Schöne daran: die Abwesenheit von Stil-Wollen, dafür aber die Gegenwärtigkeit einer Persönlichkeit, die von Jugend an nur eins war: Fotograf. Seine Liebe zum Medium erklärte Friedlander einmal mit folgendem Erlebnis: „Ich wollte einfach nur Onkel Vern, wie er an einem klaren Tag neben seinem Auto (einem Hudson) stand. Außerdem erwischte ich ein bisschen von Tante Marys Wäsche und Beau Jack, den Hund, der an einen Zaun pinkelte, und eine Reihe Knollenbegonien in Töpfen auf der Veranda und achtundsiebzig Bäume und eine Million Kieselsteine in der Auffahrt und noch mehr.“ Die Begeisterung für das „freigebige Medium“ war geboren und eine Obsession für weitreichende Schärfe.

Mit beinahe 500 Fotografien, geordnet zu 60 Bildgruppen, zeigt das Haus der Kunst in München die bislang größte Werkschau von Lee Friedlander: Unprätentiöse Selbstporträts, nonchalante Straßenbilder, amerikanische Monumente, Landschaften, Bilder von Freunden, Aktaufnahmen. Die Retrospektive wurde von Peter Galassi erarbeitet, dem Fotokurator des Museum of Modern Art, das dank privater Stiftungen eine nahezu vollständige Sammlung des Oeuvres besitzt. Nach dem erfolgreichen Start in New York macht die Schau nun bis Februar in München Station, um dann nach Paris und Barcelona weiter zu reisen. Aufgrund der ausgezeichneten Kontakte von Thomas Weski ist das Haus der Kunst damit der einzige Ausstellungsort in Deutschland, an dem Konstanz und Entwicklung Lee Friedlanders von den ersten „sozialen Landschaften“ der 60er-Jahre bis zu den jüngsten Serien wie „Letters from the People“ (1993) und „Sticks & Stones: Architectural America“ (2004) zu beobachten ist.

Außer wenigen farbigen Porträts von Jazzgrößen, die Friedlander für Plattencovers machte, finden sich keine seiner kommerziellen Arbeiten in der Ausstellung. Die gleichmäßige Rahmung, die Gruppierungen geben den überreichen Halbtonbilderräumen jene Ruhe, die die über große Zeiträume vervollständigten Serien brauchen. Jene Ruhe auch, die Friedlander seinen Arbeiten gab, indem er sie in wunderbaren, aufwändig gebundenen Büchern edieren ließ. Friedlanders Fotografien brauchen die unmittelbare Nähe des Betrachters. Das Buch auf dem Schoß ermöglicht erst das Sichvertiefen in die mitteilsam verwobenen Bildebenen: Wo steht der Fotograf? Wo befindet sich diese Straßenfront? Was ist Ausblick und was Einblick? Was ist Spiegelbild und Spiegel des Spiegelbilds? Solche Bildrätsel des Realen verführen zu einem Abenteuer des Sehens, des Sich-Einsehens.

Manchmal stiftet die Akkuratesse der Beobachtungen im Nebeneinander verwandter Werkgruppen Nachdenklichkeit: Da ist die Bildfolge des Factory Valleys: „Ohio and Pennsylvania“ (1982). Eine Reportage ohne Pathos, wie sie bei so vielen anderen Reportagen des gleichen Genres üblich war. Der Handwerker Friedlander konzentriert sich auf das Handwerk der Arbeiter. Erst der Vergleich mit der Serie von Computerarbeitsplätzen macht sozialen Wandel erschreckend deutlich. Friedlander zeigt dort gänzlich Abwesende. Keine Konzentration, sondern Absorption. Mag sein, dass dem Fotografen dieser Unterschied nicht gleich bewusst war, aber er hat ihn dokumentiert, und die Kuratoren legen dem Publikum den direkten Vergleich nahe.

Erstmals präsentiert die Schau Friedlanders Landschaftsaufnahmen des amerikanischen Westens in gebührender Breite. Allein schon der Wechsel von der kleinen Leica zum Mittelformat der Hasselblad Superwide veränderte Anfang der 1990er-Jahre Friedlanders Perspektive auf die Dinge und trug zur weiteren Präzisierung seiner Bestandsaufnahmen bei. Vorder- und Hintergründiges ist nun mit unbestechlicher Schärfe durchgezeichnet. Selbst das Geäst eines blattlosen Strauchs wird zum Faszinosum des „freigebigen“, durchaus sinnlichen Mediums. Wer also nicht nur an einer sehr vitalen Legende der Fotogeschichte interessiert ist, sondern sich seine Neugier für das Abenteuer des Sehens bewahrt hat, der muss ins Haus der Kunst, das sich unter Weskis Regie zu einer der besten Adressen für Fotografie zu entwickeln scheint.

IRA MAZZONI

Bis 12. Februar, Katalog (Museum of Modern Art) 72 €