„Ein Sieg der Linken – und der Demokratie“

In Bolivien hat Evo Morales die Wahl gewonnen. Nun wird halb Lateinamerika von Linken regiert. Der Politologe Ignacio Sotelo hält das für ein gutes Zeichen – auch wenn schon viele ernüchtert auf Lula & Co blicken

taz: Brasilien, Venezuela, Uruguay und Chile haben linke Regierungen, demnächst jetzt auch Bolivien. Ist das eine generelle Renaissance der Linken in Lateinamerika?

Ignacio Sotelo: Diese linken Regierungen sind alle sehr unterschiedlich. Chávez’ neuer Populismus in Venezuela ist eine Sache, Brasilien eine andere, und die chilenische Regierung würden viele lateinamerikanische Linke gar nicht als Linke bezeichnen. Mit der indigenen Linken gibt es dazu eine ganz neue linke Kraft. Es sind viele linke Modelle – nicht eines.

Und die haben wirklich nichts Gemeinsames?

Doch. Die alten, korrupten Parteien befinden sich in einer Krise, es entsteht eine neue politische Klasse und Struktur, mit neuen linken Regierungen, denen gemein ist, dass sie zutiefst antineoliberal sind und den Vereinigten Staaten sehr kritisch gegenüberstehen.

Reichen diese Gemeinsamkeiten für eine stärkere politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit – etwa gegenüber den Vereinigten Staaten?

Sehr begrenzt, wenn man vom rein ideologischen einmal absieht. Einige dieser Staaten haben sehr gute Beziehungen mit Kuba, andere üben am kubanischen System starke Kritik und wollen nicht auf eine Weise mit dem kapitalistischen System brechen, die ihnen die Chancen raubte, ausländische Investitionen ins Land zu holen.

In Brasilien und in Uruguay geraten die linken Regierungen in die Kritik ihrer Basis, zu sehr mit dem IWF zu kooperieren und die sozialen Forderungen nicht zu erfüllen, für die sie gewählt wurden. Gibt es einen Automatismus der Enttäuschung?

Die Versprechen der lateinamerikanischen Linken sind völlig unrealistisch. Man kann keine fortgeschrittene Sozialpolitik betreiben, wenn man keine wirtschaftliche Basis dafür hat. Die linken Regierungen von heute haben diese Lektion gelernt – das heißt aber auch, dass die Schere zwischen Wahlversprechen einerseits und dem tatsächlich Erreichbaren immer größer geworden ist. Der Einzige, der heute Sozialpolitik zugunsten der ärmsten Bevölkerung machen kann, ist Venezuelas Präsident Hugo Chávez, weil er Erdöl hat.

Ist Chávez deshalb zur neuen Ikone der lateinamerikanischen Linken geworden?

Ja, ganz klar. Er hat die zwei Elemente, die ihn dazu machen: Seine konstante Kritik an den USA und seine Sozialpolitik, die für Lateinamerika – mit Ausnahme der ersten Regierungszeit Peróns in Argentinien – etwas völlig Neues ist.

Sie haben die Indigenas als neue soziale und politische Akteure erwähnt. Wie bedeutsam sind sie wirklich?

Das ist überhaupt das Wichtigste an den Wahlen in Bolivien. Schon die bolivianische Revolution von 1952 hat die indigene Bevölkerung aus ihrer Abhängigkeit von den Großgrundbesitzern befreit, aber ohne sie sozial zu integrieren. Heute haben die 60 Prozent indigene Bevölkerung die Wahlen entschieden.

In Ecuador und Peru gab es auch erstarkende indigene Bewegungen, ohne dass die sich so klar nach links orientiert hätten wie in Bolivien. Woher kommen die Unterschiede?

Die bolivianische Revolution von 1952 hat einen guten Teil zur politischen Emanzipation der Indigenen beigetragen. Das hatte Bolivien den anderen Andenländern voraus, wo es so etwas nicht gab. Aber ich denke, dass die Wahlen in Bolivien auch ihre Auswirkungen auf Ecuador haben werden. In allen Andenländern haben die seit den Zeiten der Kolonialisierung unterdrückten indigenen Völker heute neues Selbstbewusstsein erlangt und werden in Zukunft ein entscheidender politischer Faktor sein.

Seit der Redemokratisierung der 80er-Jahre haben sich die sozialen Gegensätze in den meisten Ländern verschärft, viele sahen die Demokratie wegen der Verarmung in Gefahr. Wie steht es denn um die Demokratie heute?

Sie ist gefestigt, weil Lateinamerika eines gelernt hat: Demokratie allein bedeutet nicht automatisch wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Aber wenn man sie nicht hat, kommt diese Entwicklung auch nicht. Also ist es besser, Demokratie und soziale Rechte zu haben. Und das klarste Zeichen, dass die Demokratie funktioniert, ist der Aufstieg linker Regierungen. Wer hätte sich denn vor zehn Jahren vorstellen können, dass Lula in Brasilien und die Frente Amplio in Uruguay regieren könnte und dass in Bolivien ein Aymara-Indianer Präsident wird?

Die US-Regierung sieht die Entwicklung skeptisch. Droht jetzt wieder die alte Konfrontation?

Nein. Die Beziehungen zwischen den USA und Lateinamerika zeichnen sich heute vor allem dadurch aus, dass sie immer weniger werden. Die USA haben längst nicht mehr ein so starkes Interesse an Lateinamerika wie zu Zeiten des Kalten Krieges.

INTERVIEW: BERND PICKERT