Arien mit Klicklaut

Der britische Regisseur Mark Dornford-May hat Georges Bizets Oper „Carmen“ in einer südafrikanischen Township verfilmt. Das Ergebnis, „U-Carmen eKhayelitsha“, gewann die Berlinale, kommt nun in die Kinos, und siehe da: Übersetzung und Kulturtransfer konnten tatsächlich die Oper entstauben

VON DOROTHEE WENNER

Mit „Carmen“ verhält es sich etwa so wie mit der „Ode an die Freude“, dem „Boléro“ oder den „Vier Jahreszeiten“: durch Übernutzung als Handyklingelton, Fahrstuhlmusik oder als Music-Score von Salamiwerbung ist man sich eigentlich sicher, diese Musik nie wieder im Original ertragen zu können. Und dann sieht und hört man diese südafrikanische „Carmen“ und kommt begeistert ins Grübeln – über das, was bei Übersetzungen, Adaptionen und Kulturtransfer eben nicht verloren geht, sondern gewonnen werden kann.

„U-Carmen eKhayelitsha“, der diesjährige Gewinner des Goldenen Bären, ist ein Film mit einer außergewöhnlicher Produktionsgeschichte: Der britische Opernregisseur Mark Dornford-May hat Bizets Eifersuchtsdrama um das Zigeunermädchen, das einen braven Polizisten aus Sevilla erst um seinen Verstand und schließlich um seine Zukunft bringt, im heutigen Khayelitsha inszeniert. Die Township in der Nähe von Kapstadt ist auch im wirklichen Leben die Heimat der Hauptdarstellerin Paula Malefane, die wie die anderen Schauspieler und viele Teammitglieder des Films im Jahr 2000 bei einem „Township-Talentscouting“ entdeckt wurde und fortan Mitglied der Theatergruppe Dimpho Di Kopane (DDK) wurde. Die Gruppe tourte mit einer Bühnenversion von „Carmen“ äußerst erfolgreich durch die internationale Opernwelt, bevor die südafrikanische Chicken-Fastfood-Kette „Nandos“ Geld für die Verfilmung zur Verfügung stellte. Die oft sehr konservativen Meinungsmacher der Kinobranche betrachteten das Vorhaben jedoch mit Argwohn: Da wagen sich Außenseiter und nach landläufigen Kriterien „Amateure“ mit Hühnergeld aufs internationale Filmparkett und präsentieren eine Produktion, die so gar nichts mit dem gemein hat, was in der westlichen Welt aus afrikanischen Ländern so erwartet wird. Vielleicht mischte sich in die Skepsis um „Carmen“ untergründig auch Angst um die Definitionsmacht dessen, was „afrikanischen Kino“ zu sein hat?

Tatsächlich sind afrikanische Kinoproduktionen inzwischen zu einem sehr hohen Maß von Fördergeldern aus Europa abhängig. Doch afrikanische Filmschaffende beklagen seit Jahren, es sei unausgesprochen zu einer Bedingung geworden, dass sich ihre Projekte irgendwie mit der Aids-Problematik beschäftigen müssen, wenn sie diese Gelder aussichtsreich beantragen wollen. Vor diesem Hintergrund ist „Carmen“ eine doppelte Provokation: trotz „Township“-Kulisse ist dieser Film alles andere als eine Bestätigung der Klischees von Elendskontinent – zum anderen ist „Carmen“ ein genuin europäisches Sujet. Letzteres scheint ein noch schlimmerer Tabubruch: Wenn man sich hierzulande schon Filme aus fernen Ländern sieht, haben sie gefälligst „authentisch“ zu sein. „Die haben doch so viel eigene Musik, was brauchen die ‚Carmen‘?“, kopfschüttelte eine Filmprofessionelle nach der Berlinale-Aufführung. Ein Filmkritiker fragte sich und seine Leser nachdenklich, ob die Schwarzen in Südafrika „Carmen“ denn überhaupt verstehen können.

Die ziemlich einmalige Produktionsgeschichte ermöglichte es Dornford-May und dem DDK-Ensemble, die merkwürdigen Spezialistenvorbehalte aus Europa komplett zu ignorieren: Dieser Film fegt mit Wucht über die Leinwand und entstaubt die Liebesgeschichte zwischen dem Zigarettenmädchen und dem Brigadier von jeder folkloristischen Süße. Als Schauplatz eignet sich Khayelitsha, wo sich im Alltagsleben zwischen Blechhütten und Bars entlang dem Highway und der Eisenbahnlinie „in Wirklichkeit“ eben auch andauernd Liebesdramen auf Leben und Tod zutragen, als eine äußerst „glaubhafte“ Kulisse für die Geschichte. Carmen und ihre Freundinnen reizen die ständig patrouillierenden Bullen in einer gekonnten Mischung aus Selbstbewusstein und Verachtung: Diese Frauen kennen die Wirkung von etwas zu engen Jerseyhosen und leuchtfarbenen Tank-Tops, egal ob sie darin flanieren, arbeiten oder tanzen.

Ihre Konfrontation mit der Staatsgewalt, die sich bis zum blutigen Ende durch den ganzen Film zieht, lässt sich dabei auch als ein politischer Kommentar auf reale Machtverhältnisse verstehen, der im Original – wenn überhaupt – sehr viel verborgener und indirekter ist. Als der Brigardier Jonghi Carmen nach einem Streit mit ihren Arbeitskolleginnen in einem Minibus ins Gefängnis bringen soll, bezirzt sie, mit Handschellen an die Autotür gefesselt, den etwas tumben Dorftrottel dermaßen streetwise und cityslick, dass man ihre Arie kaum noch als klassische Oper wahrnimmt – und einfach nur staunt, wie sie sich „freisingt“, aus dem Auto springt und jenseits der Gleise im Gewirr der Township-Gassen verschwindet.

Paula Malefane und Andiswa Kedama haben den gesamten Text der Oper in ein zeitgenössisches Xhosa übersetzt, was der Musik schon allein durch die kehligen Klicklaute etwas angenehm Unvertrautes verleiht. So wie insgesamt diese südafrikanische „Carmen“-Version von Übersetzungsleistungen auf allen Ebenen lebt: Von der Stierkampfmetaphorik, die zu einem rituellen Schlachtfest mit anschließender Grillparty geworden ist, bis hin zu den „Schmugglern“, die im Film sehr realistisch dargestellt werden, wie sie im Licht von Autoscheinwerfern Drogen mit Fischerbooten an den nächtlichen Strand bringen. Dieser Film ist der Beweis, dass selbst ungenießbar gewordene „Schinken“ des europäischen Kulturerbes wiederbelebt werden können, wenn sich Künstler ans Werk machen, die Authentizität immer schon als eine dubiose Kategorie des etablierten Kulturbetriebs angesehen haben.

„U-Carmen eKhayelitsha“. Regie: Mark Dornford-May. Mit Pauline Malefane, Andile Tshoni u. a., Südafrika 2005, 126 Min.