Die falschen Rekorde

Noch immer führt der Deutsche Leichtathletik-Verband Bestmarken, die nachweislich auf Doping zurückzuführen sind. Die taz stellt exemplarisch vier Fälle vor

VON JUTTA HEESS
UND MARKUS VÖLKER

Ines Geipel, ehemalige Sprinterin des SC Motor Jena, hat unlängst die Streichung ihres Namens aus den Rekordlisten des Leichtathletik-Verbandes (DLV) gefordert. Geipel war Teil der 4x100-Meter-Staffel von SC Motor Jena, die 1984 die Zeit von 42,20 Sekunden lief und damit immer noch den deutschen Vereinsrekord hält. Sie sei ins systematische Dopingsystem der DDR eingebunden gewesen, argumentiert Ines Geipel, der Rekord sei also mit unlauteren Mitteln zustande gekommen.

Geipel, damals noch Ines Schmidt, lief gemeinsam mit Bärbel Wöckel, Ingrid Auerswald und Marlies Göhr. Der DLV hat daraufhin am 12. Oktober dieses Jahres eine Kommission einberufen, die sich mit jenen Rekorden befasst, die in der Hochphase des Anabolikadopings erzielt worden sind. Bestmarken aus Ost und West sollen geprüft werden, erklärt Dr. Anne Jakob, DLV-Justiziarin und Kommissionsmitglied, gegenüber der taz. Sie selbst habe bereits zahlreiche Sportlerakten durchgearbeitet, weitere Prüfungen stünden in den nächsten Monaten an. Der DLV verlangt, es müsse ein kausaler Zusammenhang zwischen Doping und dem Rekord nachweisbar sein. Auch sollten sich die AthletInnen selbst des Dopings bezichtigen.

Dass ein Dopingrekord ganz einfach gelöscht werden kann, zeigt der Fall des US-Sprinters Tim Montgomery. Sein 100-Meter-Weltrekord von 9,78 Sekunden wurde gestrichen, weil durch Aktenfunde und Zeugenaussagen bewiesen werden konnte, dass er gedopt hatte. Dazu war nicht einmal ein positiver Test nötig. Die taz geht im Folgenden dem Staffel-Vereinsrekord sowie drei weiteren deutschen Rekorden nach, die nachweislich auf Doping zurückzuführen sind, aber immer noch in den Rekordlisten des Verbandes stehen, wie viele andere auch – allein bei den Frauen sind es 18 zweifelhafte Bestmarken: von Heike Drechsler (Weitsprung, 7,48 Meter) bis Marlies Göhr (100 Meter, 10,81 Sekunden).

4x100-Meter-Vereinsrekord, 42,20 Sekunden, erzielt am 2. Juni 1984 in Erfurt: Eine Selbstbezichtigung von Ines Geipel ist bereits im Rahmen des Berliner Dopingprozesses erfolgt, sie gehörte zu den Nebenklägerinnen. Und eigentlich muss man die Umstände des 4x100-Meter-Vereinsrekords der Frauen nicht lange untersuchen, um herauszufinden, dass alle Läuferinnen des SC Motor Jena gedopt waren. Aus medizinischen Akten, die bereits im Buch „Doping-Dokumente“ von Brigitte Berendonk im Jahr 1991 veröffentlicht wurden, geht hervor, dass den Sprinterinnen Ines Schmidt (Geipel), Bärbel Wöckel, Ingrid Auerswald und Marlies Göhr seit 1983 leistungssteigernde Mittel verabreicht wurden. Im Jahr 1984 standen alle insgesamt 17 beziehungsweise 18 Wochen unter Dope. Kausaler kann ein Dopingnachweis nicht sein. Zusätzlich existiert ein Dopinggeständnis des damaligen Trainers des SC Motor Jena im Bereich Frauensprint. Horst-Dieter Hille wurde während des Berliner Dopingprozesses 2000 vernommen, seine Aussagen waren – ebenso wie die Geständnisse der im Folgenden erwähnten Sportlerinnen – in der damals öffentlich verlesenen Anklageschrift enthalten. Heute befinden sich diese Dokumente in der Lyndon B. Johnson Library of Contemporary History der Universität in Austin, Texas. Zurzeit werden sie ins Englische übersetzt und sollen bald in beiden Sprachen über das Internet abrufbar sein.

Horst-Dieter Hille gibt zu, seine Athletinnen mit den körperschädigenden Substanzen versorgt zu haben. Zwar habe er Testosteron-Spritzen abgelehnt, er sei aber der Ansicht gewesen, „dass Oral-Turinabol in Ordnung geht. Das habe ich auch meinen Athleten, so wie es mir die Ärzte mitgeteilt haben, weitergereicht. Ich war als Trainer an die Verbandskonzeption gebunden. Da konnte man nicht von abweichen.“ Selbst die genaue Dosis gibt Hille an: „Ich habe immer versucht, im unteren Bereich zu bleiben, also nie mehr als zwei oder eine Tablette, zwei waren das Höchste. Ich meine die hellblauen Oral-Turinabol-Tabletten.“

100 Meter Hürden, 12,42 Sekunden, erzielt am 8. Juni 1983 in Berlin: Die in Magdeburg geborene Bettine Jahn hält den Rekord, die neuntschnellste Zeit, die jemals weltweit erzielt wurde. Am selben Tag und am selben Ort lief übrigens auch Marlies Göhr ihren deutschen Rekord über 100 Meter – so viel zu den gut getimten „unterstützenden Maßnahmen ausgewählter Sportler zur Vorbereitung auf die Wettkampf-Höhepunkte im Olympiazyklus 1980/84“, wie es in einem Doping-Vergabepapier heißt.

Die heute 47-jährige Jahn stand lange im Schatten der Hürdensprinterin Kerstin Knabe; den größten Erfolg feierte sie 1983 bei der Hallen-EM in Budapest, wo sie über 60 Meter Hürden Europameisterin wurde und eine neue Weltbestleistung lief. Im November 1997 hat Jahn im Rahmen der Zeugenvernehmung zum Ewald/Höppner-Prozess die Einnahme von Dopingpräparaten gestanden. 1977/1978 habe ein Gespräch mit ihrem Trainer Eidam stattgefunden, der ihr erklärt habe, ohne leistungsfördernde Medikamente hätte man keine Chance, Weltniveau zu erreichen. „Ich habe mich dann freiwillig und ohne Zwang selbst dafür entscheiden, diese Mittel zur Leistungssteigerung einnehmen zu wollen“, gesteht Jahn. 1983 – also im Jahre ihres deutschen Rekordes – habe sie auch „in der unmittelbaren Vorbereitung auf den Jahreshöhepunkt (WM in Helsinki im August 1983) Injektionen“ erhalten. Über schädigende Nebenwirkungen sei sie nicht ausreichend aufgeklärt worden – lediglich auf Probleme mit der Regelblutung.

Bettine Jahn erklärt weiter, dass sie „eine deutliche Leistungssteigerung bemerkt“ habe. Auch wusste sie durch Gespräche mit anderen Sportlern, „dass der Einsatz und die Kontrolle von Anabolika zentral gesteuert in fast allen Sportarten erfolgte“. Pikant ist übrigens, dass Jahn Bernd Schubert als ihren Cheftrainer angibt – er war bis 2004 auch Cheftrainer des DLV. Jahn hat damals keinen Strafantrag gestellt. Sie selbst habe außer Muskelverhärtungen keine Schädigungen erlitten, auch ihre beiden Kinder sind gesund.

800 Meter, 1:55,26 Minuten, erzielt am 31. August 1987 in Rom: Sigrun Wodars war ein Lauftalent. Den Spähern ist sie früh aufgefallen. Ihr Stil wird als „leicht, federnd und doch kraftvoll“ beschrieben. Wodars lief auf dem Königsweg des DDR-Fördersystems zu großen Erfolgen: Olympiasieg 1988, Weltmeistertitel 1987 und zig nationale Meistertitel. Beim SC Neubrandenburg war sie Teil des „Gladrow-Expresses“. Walter Gladrow war der Trainer von Wodars und Christine Wachtel, der zweiten bekannten Mittelstrecklerin des Sport-Clubs. Das „Symbioseunternehmen“ Wodars/Wachtel kam nicht nur durch straffe Führung und hartes Training in Schwung, sondern auch durch die so genannten unterstützenden Mittel (uM).

Nichts anderes als die vermännlichend wirkenden Dopingmittel Oral-Turanibol (hellblaue Pillen) und STS (weiße Pillen) verbarg sich hinter dem verharmlosenden Kürzel uM. Gladrow, nach der Wende sogar zum Bundestrainer im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) aufgestiegen, kam die Aufgabe zu, die Pillen an seine Sportlerinnen zu verteilen. Das geschah nicht in der Gruppe, sondern unter vier Augen. Dies legt die Aussage von Sigrun Wodars, spätere Grau, nahe, die sie im März 1998 zu Protokoll gegeben hat. „Oral-Turanibol habe ich erstmalig ab November 1983 von meinem damaligen Trainer, Herrn Gladrow, bekommen“, heißt es da. Die Pillen seien zum „Abpuffern der Trainingsbelastung“ vergeben worden – neben Präparaten wie Dynvital oder Athletovit. „Als verbotenes Mittel oder gar Dopingmittel habe ich es nicht angesehen. Auch heute sehe ich OT nicht als Dopingmittel an. Auch wenn es als Anabolikum auf der Dopingliste geführt wird.“

Die blauen Pillen wurden auch damals schon in den Dopinglisten geführt, was die DDR-Offiziellen nicht daran hinderte, im großen Stil Hormone an ihre Sportler zu vergeben. Grau hat zugegeben, von November 1983 bis Mitte 1990 gedopt zu haben, auch wenn die ehemalige Kaderathletin das Wort Doping nicht benutzt: „Ich habe jeweils zwei Einnahmezyklen jährlich absolviert, deren Länge 2–3 Wochen andauerte. Während der ganzen Zeit habe ich immer nur eine Tablette täglich eingenommen. Dabei handelte es sich nach Anweisung von Herrn Gladrow um OT- bzw. STS-Tabletten.“ Dieses Bekenntnis ist an Eindeutigkeit nicht zu überbieten, zumal Grau sogar angibt, wie und worin sie die Mittel erhalten hat: „Ich habe die Tabletten von ihm (Gladrow) abgezählt für einen Einnahmezyklus lose erhalten. Die Tabletten befanden sich in aller Regel in einem ausgedienten Vitamin-C-Röhrchen“, führt die ehemalige Rundenläuferin im Detail aus. DDR-Mediziner ließen regelmäßig die Leberwerte überprüfen. Von einer körperlichen Schädigung will Grau nichts wissen. Sie verneint entsprechende Nachfragen.

Bereits 1999 drohte ihr die Aberkennung des 800-Meter-Rekordes. Der frühere Leiter des Sportmedizinischen Dienstes der DDR, Dietrich Hannemann, einer der Köpfe des systematischen Betrugs, war vom Amtsgericht Tiergarten in Berlin zu einem Strafbefehl in Höhe von 45.000 Mark verurteilt worden. In der schriftlichen Urteilsbegründung stand unter anderen der Name Sigrun Wodars; ihre Verstrickung in das Dopingsystem wurde aufgeführt. Der DLV tagte und kam zum Schluss, dass „die Einbindung in ein Dopingsystem zum Zeitpunkt der Rekorderzielung“ einem Geständnis der Athletin gleichkomme und mit Aberkennung des Rekordes zu ahnden sei. Passiert ist nichts. Sigrun Grau sagt, sie würde die Pillen wieder nehmen, „in dieser geringen Dosierung“.

1.000 Meter, 2:30,67 Minuten, erzielt am 17. August 1990 in Berlin: Christine Wachtel und Sigrun Wodars, die Neubrandenburg-Twins, schienen bei ihren Läufen auf den Tartanbahnen dieser Welt eine stille Übereinkunft zu haben. Im Freien siegte Wodars, drinnen schnappte sich die Konkurrentin aus dem eigenen Klub Platz eins. Wachtel, wie Wodars mittlerweile 40 Jahre alt, wurde zweimal Hallenweltmeisterin, und wie es sich gehörte, gönnte sie ihrer Trainingspartnerin bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul den Sieg. Wieder einmal hatte es ihr Heimtrainer Walter Gladrow geschafft, die schnellen zwei „auf den Tag fit zu machen“, wie Wachtel einmal die Fähigkeiten ihres Coaches rühmte. Des Trainers Geschick basierte auch auf der Vergabe von Dopingmitteln an seine Läuferinnen. Wachtel, die den deutschen Rekord über 1.000 Meter hält und auch lange Zeit den Hallenweltrekord über 800 Meter, weiß davon zu berichten – im November 1997 vor Beamten der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität in Berlin.

Anders als Sigrun Grau gibt sie an, die Hormonpräparate in Tablettenform von dem Arzt Dr. Stemmler erhalten zu haben. „Herr Dr. Stemmler erklärte mir, dass man mit diesen Tabletten eine höhere Trainingsbelastung durchhalten kann und dadurch eine Leistungssteigerung erreichen kann.“ Allerdings war dies eine verbotene Methode der Aufpeppung. Sie habe die Tabletten „ohne Originalverpackung in der Menge für einen Einnahmezyklus“ erhalten, gibt Wachtel zu Protokoll. Der Zyklus dauerte etwa zehn Tage – entweder hatte sie Oral-Turanibol oder STS zu schlucken.

Übers Jahr verteilt gab es zwei oder drei solcher Anabolikakuren. Wachtel gibt zu, die Tabletten von 1985 bis etwa 1990 eingenommen zu haben. 1990 lief sie den deutschen Rekord. Eine zeitliche Nähe besteht ebenso wie eine Verwicklung ins Dopingsystem der DDR – Kriterien, die eine Streichung der Bestmarke erforderlich machen.

Sie habe, äußert Wachtel, die Einnahme der „unterstützenden Mittel“ jedoch nicht als Doping wahrgenommen, und das Wort Anabolika sei ihr damals nicht geläufig gewesen. Der Arzt bat sie nichtsdestotrotz, „mit niemandem – weder im Sportler- noch im Familienkreis – darüber zu reden“.

Christine Wachtel hat ihre sportliche Karriere 1994 beendet. Danach versuchte sie sich unter anderem als Inhaberin eines „Pizzabackhauses“ durchzuschlagen. Auf eine Anzeige wegen Körperverletzung hat sie verzichtet. „Ich bin ja nicht verletzt“, begründete sie ihre Entscheidung.

Die angeführten Rekorde könnten umgehend gelöscht werden. Damit, wie es Ines Geipel fordert, „junge Athleten heute wieder Rekorde laufen können“.