IG Metallica

Der Harz, die Schwerindustrie und die Monumentalität von unterschiedlichsten Klängen: Eine Weihnachtsgeschichte ohne Weihnachten

Während die Stadt schlief,raste hier ihr Herz, und dieses Herz hatte verdammte Ähnlichkeiten mit einer Hölle

von ANDRÉ KUBICZEK

Die Straße war fünf Meter breit und zwei Autos hätten einander knapp passieren können. Aber es war Nacht und die Stadt schlief. Nur zwei einsame Wagen parkten am Gehweg, der sich eine leichte Steigung hinaufwand. An den Rändern standen lückenlos einstöckige, verklinkerte Mietshäuser. Eines sah aus wie das andere. Die Eingangstüren waren ebenerdig, die Rollläden der Parterrewohnungen heruntergelassen. Hier und da spannten sich Bündel armdicker Kabel zwischen den schiefergedeckten Dächern. Fahles Licht ging von den geschwungenen Laternen aus, die im Abstand von hundert Metern in den Asphalt des Bürgersteiges eingelassen waren: weiß eigentlich, doch Staubpartikel und Rußteilchen tönten es ins Warme. Weiter vorne bog sich die Straße nach links.

Bender lief in der Straßenmitte und war vielleicht noch hundert Schritte von der Kurve entfernt. Es gab keinen Grund, schneller zu gehen, aber er tat es dennoch. Als er die Kurve durchquert hatte, sah er, dass die Straße wenig weiter an einer mannshohen Mauer aus Feldsteinen endete. Er befand sich in einer Sackgasse, die er an dieser Stelle nicht vermutet hatte, denn eigentlich kannte er die Unterstadt, in der er jetzt war, wie seine Westentasche, von früher noch, als sie in Banden von fünfzig Kindern hier umhergezogen waren.

Bender wurden die Füße schwer. Nur das wusste er noch: Die Trauerfeier war längst beendet. Die Feiernden hatten den gesamten Abend kräftig zugelangt, vor allem bei den Schnäpsen. Wahrscheinlich war das der Grund, warum sich Bender, statt zu schlafen, in den unwirtlichen Straßen der toten Arbeitersiedlung herumtrieb. Und auch seine Sinne – oder wenigstens deren Koordinierung– waren nicht mehr auf der Höhe, denn statt zu sehen, was da hinter der Feldsteinmauer in den schwarzblauen Himmel ragte, sich geradezu auftürmte zu einem brachialen architektonischen Moment, und dem widerlich romantischen Harzhimmel einen flackernden Feuerschein verlieh, hörte er es zunächst. Es war ein Rumpeln, nein: ein Rumoren, ein satter Sound, der aus einer Vielzahl einzelner Geräusche bestand, hämmernde, pochende, metallisch helle und hölzern dumpfe, schleifende und zischende Geräusche. Eisen auf Eisen, rasselnde Förderbänder, dröhnende Motoren: eine Kakophonie schwerindustrieller Vitalität.

Und als er, benommen von der Monumentalität des Klangs, den Kopf hob, um seine Ursache zu erkennen, fand er sich in einer gigantischen Rhapsodie aus Rost wieder: korrodiertes Eisen, so weit das Auge sehen konnte, bis zum Horizont, der zu Füßen der steil ansteigenden Berge endete. Rost in den abwegigsten Formen: mehrstöckige Türme, Reihen von Stahlzylindern, Kranausläufer, alles ohne Symmetrie ein Gewirr von Trägern, Verstrebungen und Seilen, dazwischen einzelne, gemauerte Essen, die sich wie ausgestreckte Mittelfinger aus der bebenden Erde hoben und die Luft mit stinkenden Gasen verätzten.

Während die Stadt schlief, raste hier ihr Herz, und dieses Herz hatte verdammte Ähnlichkeiten mit einer Hölle. Bender lief weiter. Der Boden, auf dem er jetzt ging, bestand aus Beton, der von einem Schienennetz durchzogen war. Öllachen schimmerten auf den Pfützen. Einem dieser Schienenstränge folgte Bender und gelangte derart in eine Halle von der Fläche eines Fußballfeldes. Der gesamte Raum loderte, er glühte geradezu, und zwar weiß: Weißglut. Entsprechend war die Temperatur. Auch hier dröhnte es. Bender schmerzten die Ohren, die Augen brannten ihm vor Hitze und Müdigkeit. Er schwitzte und: Er stellte sich die Frage, was er hier eigentlich machte.

Dann aber entdeckte er etwas, das seine Neugier unmittelbar fesselte, so sehr, dass er unbedacht einige Schritte voran tat. Die Hitze versetzte ihm einen Schlag, der ihn augenblicklich zum Hallentor zurückwarf, durch das ein kühler Zug Nachtluft hereinwehte. Doch einmal entdeckt, sah er sie auch von hier: menschliche Schemen, die sich bewegten, die Betreiber dieser Hölle. Es waren Dutzende. Sie schaufelten Koks und Erz in die Türen brodelnder Öfen, sie stachen Stahl ab, sie leiteten glühende Ströme flüssigen Metalls durch die Halle, sie zwangen sie durch die Walzen, sie kühlten sie mit Wasser, sie rollten den gewalzten Stahl auf meterhohe Haspeln. Die Männer trugen silberne Schutzanzüge, unter denen die Brustkörbe bebten. Der Widerschein des Feuers zuckte in den Schutzbrillen.

Bender wusste sofort: Das hier war Kampf. Die Verbissenheit, mit der die Männer die Materie bezwangen, der Fanatismus, mit dem sie ihr Form gaben. Hier ging es nicht nur um die Produktion von Stahl, hier ging es um eine Mission. Hier setzte sich fort, was im Mittelalter begonnen hatte, als der Wilde Mann aus dem Boden gestampft worden war, die erste Eisenhütte der Gegend, und was sich in den folgenden Jahrhunderten mit kleinen Werkzeug- und Nagelschmieden, mit Hochöfen, mit Hammer- und Pochwerken, schließlich mit dem Stahl- und Walzwerk fortgesetzt hatte.

Es war eine Mission, die auf die Zukunft ausgerichtet war. Dort gab es keine Arbeitnehmer mehr: Angestellte in proletarischen Berufen, dort waren die Arbeiter gleichzeitig Sinn und Zweck allen Tuns. Es gab keine Individuen, und dennoch hatte jeder ein Gesicht. Das, was sie heute Nacht hier im Kleinen machten, würden sie dann auf Weltniveau machen: Materie gestalten.

Irgendwie wurde Bender warm ums Herz bei diesem Gedanken. Er wusste nicht, ob er ihn irgendwann gelesen hatte oder ob die Bilder der Arbeiter so stark waren, um ihn von selbst aufkommen zu lassen. Er kam aber nicht mehr dazu, sich darüber klar zu werden, denn eine Sirene legte sich über das Rumoren: drei lang gezogene tiefe Töne. Sofort verstummten die Arbeitsgeräusche, und in einer, nach all dem Krach, seltsam anmutenden Stille verzogen sich binnen Sekunden Dampf- und Rauchschwaden. Die Arbeiter hatten schon beim ersten Ton innegehalten, wie erlöst, als hätten sie die ganze Zeit auf das Signal gewartet. Sie ließen die Werkzeuge fallen, sie ließen von den Maschinen ab, während sich von der Decke ein Edelstahlungetüm herabsenkte, das die Untertassenform eines Ufos hatte.

Lauter Jubel brach aus. Die ersten Arbeiter rissen sich die Schutzmasken von den Köpfen. Sie hatten kleine Schweißperlen auf den Stirnen, ihre Frisuren waren akkurat und mit Gel in Form gebracht. Einige hatten lange Haare, die in sanften Wellen die Gesichter umflossen, sehr fein gezeichnete Gesichter, die blauen Augen von einem dezenten Mascarastrich betont. Es begann wieder zu dampfen, auf Kniehöhe, aus allen Ecken kam der Dampf geschossen, doch Bender wusste, dass es sich um Trockeneisnebel handelte.

Trotz des Gewabers, das schnell die komplette Halle ausfüllte, konnte er erkennen, wie sich die Arbeiter ihrer silbernen Anzüge entledigten. Erstaunlicherweise waren sie darunter fast nackt: braungebrannt und muskulös die Oberkörper, die Bauchmuskeln herausgearbeitet. Fast alle trugen Hotpants aus Leder, einige hatten Ringe in den Brustwarzen oder kleine glitzernde Steine im Nabel. Unterdessen hatte sich das Edelstahl-Ufo zu drehen begonnen, zunächst langsam, dann immer schneller, und als es in vollem Schwung war, gab es ein Klacken, und im Inneren des Ufos sprangen zig Stroboskoplichter an.

Erneut durchflog ein Jubelschrei die Halle. Die ersten Arbeiter begannen ekstatisch zu tanzen, wohl in Vorfreude auf die Musik, die wenig später tatsächlich einsetzte. Bender kannte das Lied, einen Dancefloorklassiker aus den Neunzigerjahren. Immer, wenn der Refrain wiederkehrte, grölten die Arbeiter laut mit: I’ve got the power. Aus dem Nebel kam einer der Arbeiter näher. Seine Arme bewegten sich wie Schlangen auf und ab, während er sich mit rhythmischen Beckenstößen in Benders Richtung bewegte. Bender konnte schon das Aftershave riechen und er sah schmale, feingliedrige Hände auf sich zukommen. Bevor sie ihn packen konnten, machte er auf dem Absatz kehrt und rannte aus der Halle, zweihundert Meter weit und mit aller Kraft, die ihm nach dieser Nacht noch zur Verfügung stand. Draußen hatte sich das Morgenrot über die Stadt gelegt, rote Striche auf dem zartblauen Himmel, und Bender merkte, als er verschnaufte, dass er sich noch immer auf dem Werksgelände befand. Musik jedoch war keine mehr zu hören. Oder doch?

Doch, da war immer noch Musik. Sie kam aus kleinen Lautsprechern, die an Dachvorsprüngen und Masten hingen und früher dem Betriebsfunk gedient hatten. Der Song allerdings war ein anderer als jener in der Werkhalle, doch auch diesen kannte Bender. Aber er kam jetzt nicht auf den Titel. Da konnte er noch so oft die eine markante Zeile wiederholen: Sleep with one eye open, sleep with one eye open. Klar: Bender kannte das Lied, und wie noch mal hieß die verdammte Band? Sleep with one eye open, schepperte es abermals, und mit einem Mal fiel Bender der Name wieder ein, doch obwohl er bereits auf der Zunge lag, ließ er sich nicht aussprechen.

André Kubiczek, Jahrgang 1969, ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Zuletzt erschien von ihm bei Rowohlt Berlin der Roman „Die Guten und die Bösen“