Am liebsten für sich

Schwankende Daseinsgefühle und viele Stunden der wahren Empfindung:Der Briefwechsel von Nicolas Born und Peter Handke in den Siebzigerjahren

von GERRIT BARTELS

Der Ton ist ein freundschaftlich-zärtlicher, voll Zuneigung, eher unüblich unter Männern, zwei Schriftstellern dazu, und durchweg kommt es immer wieder zu schieren Überwältigungen ob gegenseitiger Lebensbeeinflussungen. „Lieber Peter Handke“, schreibt Nicolas Born im Februar 1974, „ich weiß nicht, ob Du noch etwas damit anfangen kannst, wenn ich Dir sage, daß Du wieder mal in mein Leben eingegriffen hast. Ich meine die Erfahrung, als ich im Zug von Berlin nach Essen Dein neues Stück gelesen habe.“ In Handkes wohl letztem Brief an Born wiederum – Born erliegt 1979 einem Lungenkrebsleiden – heißt es: „Lieber Nicolas, in dem neu gekauften Fernseher habe ich Dich gestern abend gesehen, und ich hatte, habe jetzt noch, ein überwältigendes Gefühl des Prophetischen bei dem, was Du gesagt hast […].“

Fünf Jahre lang führten Nicolas Born und Peter Handke ihren aus Briefen und Postkarten bestehenden Schriftverkehr; fünf Jahre, in denen sich nicht zuletzt durch viele persönliche Begegnungen eine intensive, teilnahmsvolle Freundschaft entwickelte. Beide hatten sich 1972 auf der Frankfurter Buchmesse kennen gelernt, und 1974 hatte Born in einem ersten Brief an Handke diesen für eine Mitarbeit an Rowohlts Literaturmagazin zu gewinnen gesucht. Der von Borns Tochter Katharina edierte Briefwechsel der beiden, den das neue Schreibheft erstmals veröffentlicht (und der eine Art Vorabveröffentlichung von Borns Briefen im kommenden Herbst ist), ist ein anrührender, bewegender, genauso aber, mit heutigen Augen und Erfahrungen gelesen, ein höchst fremd anmutender.

Die Siebzigerjahre eben, dieses seltsame und nach 1968 seltsam verunsicherte Jahrzehnt, auch und gerade in der Literatur. Born wie Handke galten als Protagonisten einer neuen Innerlichkeit in der Literatur, einer bekennenden, mitunter sich als politisch ausgebenden Gefühligkeit, wobei der eine, Born, nach zwei Gedichtbänden erst im Begriff war, bekannt zu werden, und der andere, Handke, schon ein ruhmreicher, mit dem Büchner-Preis 1973 ausgezeichneter, wenn auch nur allzu gern angefeindeter Schriftsteller war.

Bei all dem unvermeidlich alltäglichen Austausch, etwa der Tüte mit dreckiger Wäsche, die Born bei einem Besuch bei Handke vergessen hat, geben sich beide auch in ihren Briefen so manche Blöße, entspricht ihr Briefwechsel dem Empfindungsgrad ihrer Bücher dieser Zeit, Borns „erdabgewandte Seite der Geschichte“ oder Handkes „Stunde der wahren Empfindung“.

Wie reich und verzwickt es doch im Innern dieser Schriftsteller aussah! Und wie sehr beide sich umwarben! „Du bist immer irgendwie anwesend bei mir“, schreibt Born, und Handke gesteht: „Ich habe dich sehr gern.“ Doch ist es insbesondere Handke, der seine Ich-Beschau eher kultiviert, als dass sie aus einer seelischen Not heraus stattfindet. Er freut sich nach Abschluss eines Buches darüber, „sich selbst endlich einmal wieder los zu sein“, wartet nach Dreharbeiten zu „Die linkshändige Frau“ aber auch auf die Rückkehr eines Ich-Gefühls oder freut sich darüber – sicher eine Offenbarung für so manchen Vater –, seine Tochter Amina mit einer Freundin spielen zu hören: „Ich kann für mich sein und habe doch etwas von denen.“

Born wirkt ungefestigter. Aus viel persönlichem Malheur (der Trennung von seiner ersten Frau, einem kompletten Hausbrand) entstehen bei ihm Lebensunsicherheiten, ein „schwankendes Daseinsgefühl“, und viel davon fließt auch ein in seinen Roman „Die erdabgewandte Seite der Geschichte“: „Ich glaube“, schreibt er 1975 an Handke über seine Hauptfigur, „daß ich alle meine Ängste im Augenblick in dieser Person gesammelt sehe.“ Als der Roman 1976 erscheint, der übrigens heute wiedergelesen mit seinem unablässigen Ego-Bewusstseinsstrom genauso beeindruckt wie auf die Nerven geht, bespricht Handke ihn in der Zeit, und nicht nur beim Austausch über diese Rezension wird deutlich, wie fremd Handke und Born sich im Literaturbetrieb fühlen, wie unverstanden von den „außen und innen tristen Gestalten, mit denen der Kulturbetrieb vollgestopft ist“.

Darüber hinaus beschäftigen sie sich auch mit poetischen Problemen, mit „einer Literatur gegen das Ersticken von Fakten und Bedeutungen“, mit der „Lebendigkeit“ von Sprache. Handke aber ist schon ganz der überzeugte Apostel der Einsamkeit, der weiß, „daß ich durch das Für-mich-Sein gerade extra zu einer Figur werde, die ich nicht mag – aber dann denke ich wieder, daß das meine Existenzart ist oder geworden ist“. Born dagegen versucht noch die richtige Balance zwischen Betriebsamkeit und Zurückgezogenheit zu finden, zwischen politischer Sensibilität, dem Einsatz in der Anti-AKW-Bewegung (für ihn allein deshalb eine Notwendigkeit, da er mit seiner neuen Frau und zwei Töchtern in Lüchow-Dannenberg lebt), und dichterischer Weltabgewandtheit: „Ja, ich will aufpassen, daß mir die kommende Unterminierung und Aufladung, Verseuchung des Erdballs mit Plutonium und anderem Atomdreck nicht Arbeit und Leben verdirbt und mich nicht hysterisch macht.“

Nur selten findet die politische Realität so offen Einlass in diese Briefe – Born und Handke kommen praktisch ohne die Bewertung des Politischen aus, ohne Einschätzung der aktuellen Ereignisse wie des Terrors durch die RAF oder eben der Anti-AKW-Bewegung. Sie sind ganz bei sich und ihren privaten Lebensumständen, doch so fremd diese selbstbezügliche und bis in den hintersten Seelenwinkel gehende Dichter-Innerlichkeit heute sein mag: Handke in seiner Elfenbeinturmhaftigkeit und der zweifelnde, zögerliche Born kommen einem beim Lesen sympathisch nah.

„Schreibheft“ Nr. 65, hrsg. von Norbert Wehr, Rigodon, Essen 2005, 10,50 €