Schmied des eigenen Glücks

Erfolg beim Zuschauer macht verdächtig: Max Reinhardt hat in Berlin nicht nur inszeniert, sondern auch Theater bauen lassen und mit wirtschaftlichem Erfolg geleitet. Ihm gelang eine Demokratisierung der Form und Offenlegung der Kunst. Dennoch belastet ihn der Vorwurf des Unpolitischen bis heute

Im Anti-Reinhardt-Ressentiment spiegelt sich von Anfang an der diskret-totalitäre Charme deutscher Kunstreligionen wider

VON ESTHER SLEVOGT

Plötzlich erinnert Berlin sich wieder an Max Reinhardt. Obwohl es in der Stadt kaum ein Theater gibt, dessen Geschichte nicht auf irgendeine Weise mit Reinhardt verbunden ist, war er lange vergessen. Es existiert höchstens noch ein schemenhaftes Bild dieses großen Theatermachers, der Deutschland 1933 verlassen musste. Am ehesten erinnert man ihn als Intendanten des Deutschen Theaters, das er 1905 übernommen und weltberühmt gemacht hat. Hundert Jahre später entdeckte man ihn dort nun als Referenzfigur wieder – und musste erst mal einiges lernen.

Eigentlich hat man Reinhardt im Deutschen Theater nämlich nur aus Trotz wieder ausgegraben: um auf die Geschichte des Hauses jenseits seiner Rolle als ehemaliges Nationaltheater der DDR zu verweisen. Um dann zunächst mit einem Bild Reinhardts zu arbeiten, das erst mal jene Klischees bediente, die das Reinhardt-Bild bis heute trüben. Wie ein freundliches Maskottchen blickt der Theatergigant vom Spielzeitlogo. „Max 100“ verkündet eine Vignette mit seinem Porträt und spricht ihn schulterklopfend beim Vornamen an. Intendant Bernd Wilms schildert seinen großen Vorgänger, der die Regie als gestaltendes Prinzip des Theaters zur Kunstform erhob und bald Chef eines florierenden Theaterimperiums war, in einem jovialen kleinen Text („So stell ich mir Max Reinhardt vor“): als weltfremden, schrulligen Mann ohne Portemonnaie, dessen Rechnungen stets andere bezahlt hätten; als halbseidenen Theaterkrösus von umstrittenem künstlerischen Rang. Schließlich kommt Wilms zum Ergebnis, dass Reinhardt heute keine Rolle mehr spielt. Spuren würden nur die hinterlassen, die die Welt verändern wollten. Brecht zum Beispiel. Max Reinhardt dagegen habe bloß wirken wollen.

Vorträge von Theaterwissenschaftlern, die das Deutsche Theater zum Reinhardt-Jahr eingeladen hat, haben das Bild inzwischen etwas gerade gerückt. Denn Gott sei Dank ließ sich das Theater wenigstens nachträglich darüber belehren, mit wem es sich einließ, als es mit spitzen Fingern Max Reinhardt wieder aus dem Theatermuseum holte. Reinhardt war zweiunddreißig, als er das Deutsche Theater übernahm, das er als Privattheater völlig ohne Subventionen zu Weltruhm führte. Bis die Nazis es durch räuberische Steuergesetze ruinierten und so durch die Hintertür arisierten.

Das einstige Nationaltheater der DDR ist also erst 1933 in Staatsbesitz gelangt. So war man im Deutschen Theater dann auch einigermaßen konsterniert, als das Haus bald nach der Wende zur offenen Vermögensfrage wurde. Noch für eine zweite Liegenschaft meldeten Reinhardts Erben Restitutionsansprüche an. Am Schiffbauerdamm Ecke Friedrichstraße stand bis 1982 ein Gebäude, das Reinhardt 1918 von Hans Poelzig zum Großen Schauspielhaus umbauen ließ. In jeder Architekturgeschichte ist dieser enorme expressionistische Theaterbau mit seinen Stalaktiten und der revolutionären Arenabühne zu finden. Reinhardt und sein Architekt hatten hier eine neue, demokratische Raumlösung geschaffen, die die zentrale Perspektive der Guckkastenbühne ablöste. Nach dem Zweiten Weltkrieg bot der Poelzig-Bau als „Friedrichstadt-Palast“ den schönsten Beinen des Sozialismus Asyl, bis das baufällig gewordene Haus abgerissen wurde.

Bevor er das Deutsche Theater übernahm, leitete Reinhardt das heutige BE am Schiffbauer Damm, das damals „Neues Theater“ hieß. Hier entstand 1903 eine der berühmtesten Reinhardt-Inszenierungen, Shakespeares „Sommernachtstraum“ mit dem Drehbühnenwald, dem vor ein paar Jahren Leander Haußmann in seiner „Sommernachtstraum“-Inszenierung noch einmal seine Reverenz erwies. In den 20er-Jahren baute Reinhardt schließlich die beiden Boulevardtheater am Kurfürstendamm, die, inzwischen hinter der Fassade des Ku’damm-Karrees, gerade für Schlagzeilen sorgen, weil ein Immobilienfonds der Deutschen Bank als Eigentümer die Theater einer Shopping-Mall opfern will.

Auch die Volksbühne wurde von Reinhardt während des Ersten Weltkrieges drei Spielzeiten lang geleitet. Die Begeisterung des Publikums für seine Inszenierung von Kleists „Hermannsschlacht“ im Januar 1918 ließ den berühmten Kritiker Siegfried Jacobsohn resigniert feststellen: „Die Arbeitermassen unterliegen hemmungslos der Suggestion des Theaters.“ Noch hemmungsloser sollten sie fünfzehn Jahre später der Suggestion der Politik erliegen, die Reinhardts Inszenierungen mit einer neuen Regie der Masse vorweggenommen hatte. Er ließ die Masse Mensch selbst zum Protagonisten werden.

Berühmt wurde dieser neue Zugriff bereits 1916 am Deutschen Theater mit Reinhardts Inszenierung von Georg Büchners nachgelassenem Stück „Dantons Tod“, bis dahin erst zweimal auf die Bühne gebracht. Reinhardt macht das Drama mit einem Schlag zum Klassiker. Seine bühnentechnischen Erneuerungen hatten die aus Kurzszenen zusammengesetzte Revolutionstragödie überhaupt erst richtig spielbar gemacht. Reinhardt inszenierte das Volk atmosphärisch, als akustische Kulisse aus Stimmen und trampelnden Füßen, und dynamisch choreografiert in wechselnden Lichtkegeln. Manchmal schälten sich aus der Masse einzelne Individuen heraus: Büchners auf Mittelmaß geschrumpfte Revolutionäre.

Zeitgenössische Kritiker hatten einen Mangel an revolutionärer Energie auszusetzen. Ein allgemeiner Aufbruch hatte das alte Europa erfasst, dessen Ordnung im Untergang begriffen war: Bei Reinhardt vermisste man entsprechend avantgardistische Positionen. Bis heute ist es ein Standardargument gegen ihn, er sei antimodern gewesen.

„Ich glaube, die Menschheit wäre glücklicher, wenn nicht Einzelne sie immer wieder um jeden Preis beglücken wollten – selbst um den Preis des Glücks“, wird Reinhardt kurz vor seinem Tod 1943 in New York schreiben. In seinem Leben hat er die Weltverbesserer und Zwangsbeglücker massenweise emporwachsen sehen, und zwar in der Kunst ebenso wie in der Politik. Bekanntermaßen waren die Folgen für das Jahrhundert eher verheerend, und oft waren die Künstler blind dafür. Wollten die Welt verändern, selbst wenn sie dafür Niedrigkeiten begehen und Schlächter umarmen müssten, wie es Brecht in seinem Stück „Die Maßnahme“ den Zeitgenossen empfahl.

Als tieftrauriges Mysterienspiel vom Scheitern aller Glücks- und Beglückungsversuche wird Reinhardts Inszenierung von „Dantons Tod“ im Jahr vor der Oktoberrevolution zur Signatur für alles, was kommen würde. Mehrfach wird er den Stoff in den kommenden Jahren bearbeiten. Gegenmodell dazu war der „Sommernachtstraum“, den er bis an sein Lebensende immer wieder neu aufgriff – als Entwurf einer ideologiefreien Welt.

Reinhardts Texte über das Theater lesen sich manchmal, als hätte ein volkstümlicher Ernst Bloch sie geschrieben. Sie sind durchweht vom Geist der Utopie, und Gedankenfiguren tauchen darin auf, die sich auch in Schriften des frühen Georg Lukacs und bei Walter Benjamin finden. Immer wieder geht es um die Krankheiten der Epoche, um Entfremdung, Auraverlust der Kunst und die metaphysischen Konsequenzen, die für den Menschen aus der Entzauberung der Welt entstanden sind. Theater, das sei „der seligste Schlupfwinkel für diejenigen, die ihre Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt haben, um bis an ihr Lebensende weiterzuspielen“ ist einer von Reinhardts berühmtesten Theatersätzen. Er stammt aus einem Vortrag, den er 1928 an der New Yorker University of Columbia gehalten hat und ist besonders gerne verwendet worden, um Reinhardt als unpolitischen Kindskopf und naiven Weltflüchtling zu missverstehen.

Tatsächlich geht es Reinhardt um mehr: Dem sich selbst fremd gewordenen modernen Menschen bietet er das Theater als Zuflucht an. Nicht als Illusionsmaschine und Betäubungsapparat. Denn dass er seine Zuschauer stets im Klaren über die technischen Mittel seiner Kunst lassen wollte, darauf hat in einem Vortag im Deutschen Theater auch die Berliner Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte noch einmal hingewiesen und Reinhardts Theaterbegriff mit Brechts Epischem Theaters in Verbindung gebracht. Vielmehr bestand die Utopie, auf die Reinhardts Theater gerichtet war, in der Schaffung eines unentfremdeten Raums im Spiel. So radikal hat vielleicht erst wieder Frank Castorf das Theater als Zuflucht für den transzendental obdachlos gewordenen Zeitgenossen begriffen und neue Theaterformate erdacht, mit denen dieses Angebot an den Mann und die Frau gebracht werden konnte.

Und die Leute nahmen Reinhardts Angebot an, strömten in seine Theater und machten ihn reich. Schon manche Zeitgenossen fanden das anrüchig und benutzen es, seine Seriosität in Zweifel zu ziehen. Dabei lebte Reinhardt, wie er Theater machte: immer aus dem Vollen, aber immer auf eigene Rechnung, sozusagen als autonomes Subjekt.

Trotzdem wird sein wirtschaftlicher Erfolg bis heute als Argument gegen Reinhardt verwendet. Als sei es ein Verbrechen, mit Theater Geld zu verdienen und Massen zu begeistern. Dass Avantgarde und Masse durchaus kompatible Phänomene sein können, hat spätestens die Popindustrie unter Beweis gestellt.

Im Anti-Reinhardt-Ressentiment spiegelt sich von Anfang an der diskret-totalitäre Charme deutscher Kunstreligionen, aber auch die Tatsache wider, dass die deutsche Theatertradition höfisch, dass Theater als Kunstform ursprünglich für das Volk nicht vorgesehen war. Was bürgerlich an ihm war, hatte das Bildungsbürgertum beigesteuert, das vom Theater vor allem Vermittlung von Werten und Bildungsinhalten verlangte. Reinhardt hat damit ziemlich aufgeräumt und das Theater als Kunstform demokratisiert. Hat den Regisseur als selbstbestimmten Verwirklicher erfunden, sozusagen als Schmied des eigenen Glücks, von dem das Bürgertum seit der Aufklärung eigentlich träumte. Ein Glück, das allerdings nie mehr als reines Theaterglück sein wollte.

Bis heute hat man Reinhardt den Verweis der Gebundenheit aller demokratischen Theaterkunst an den Zuschauer, also an den Markt, nicht wirklich verziehen. Die meisten Theatermacher fühlen sich immer noch als Teil einer Elite mit diffusem Auftrag: Auftrag zur Aufklärung, zur Erleuchtung oder zur Wahrheit an sich. Max Reinhardt ist einen anderen Weg gegangen und deshalb für den subventionierten Kulturbetrieb immer noch eine Provokation.