Wer zertifiziert die Gutachter?

Chemiekranke kritisieren einen Lehrgang für Mediziner. Dort werden wissenschaftlich nicht haltbare Kriterien für die Anerkennung einer Berufsrente verbreitet – unter dem Siegel der Unabhängigkeit

VON BRITTA BARLAGE

Chemiekranke befürchten, dass die Berufsgenossenschaften einen neuen Weg gefunden haben, die Anerkennung von Berufsrenten vor Gericht zu beeinflussen. Nachdem ein zweifelhaftes arbeitsmedizinisches Merkblatt auf öffentlichen Druck hin geändert werden musste, setzen sie nun anscheinend bei der Ausbildung von Nervenärzten an. Neurologen gelten vor Gericht aber als entscheidende Fachleute.

„Haben die Gutachter der Berufsgenossenschaften nichts dazugelernt?“, fragt Peter Röder von der Initiative kritischer Umweltgeschädigter (IkU). Die IkU setzt sich für Chemiekalienopfer ein – und kritisiert jetzt einen Gutachter-Lehrgang der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). Röder sagt: „Was dort gelehrt wird, verschärft sogar die geltenden Regeln zur Anerkennung der Berufskranken.“ Der Inhalt des Lehrgangs widerspreche dem neuen Merkblatt zur Berufskrankheit durch Lösemittel (BK 1317). Das ist brisant. Denn das Merkblatt musste im März 2005 geändert werden. Es entsprach nicht dem wissenschaftlichen Kenntnisstand. Viele Berufskranke hatten deshalb zuvor keine Rente erhalten.

In den Arbeitsmaterialien des Lehrgangs steht nun: Die Hirnatrophie spreche gegen Lösemittel als Ursache für die Krankheit. Dabei ist diese Gehirnschädigung laut Merkblatt sogar die folgenschwerste Form der Lösemittelschädigung.

Weiterer Widerspruch: Die Arbeitsmaterialien definieren eine Mindestzeit für die Lösemittelbelastung. Gegen die Berufskrankheit spreche, wenn der Kranke den gefährlichen Stoffen weniger als zehn Jahre lang ausgesetzt war. Weder das neue noch das falsche alte Merkblatt definieren eine solche Zeit.

Der Referent und Vorsitzender der DGN-Arbeitsgruppe, die an Lehrgangsteilnehmer ein Zertifikat vergibt, ist Professor Martin Tegenthoff von den Berufsgenossenschaftlichen Kliniken in Bochum. Er schreibt auf Anfrage: Das der taz vorliegende Papier gebe nicht den Inhalt seines Vortrags wieder. Es handele sich lediglich um Arbeitsmaterialien, die den Zuhörern als Arbeitsgrundlage dienen sollen. Er habe auf das Merkblatt verwiesen und die neuen Aussagen zur Verschlimmerung der Krankheit explizit dargestellt.

Fraglich ist aber, wieso wissenschaftlich nicht anerkannte und überholte Kriterien überhaupt ausführlich aufgeführt werden. Peter Röder sagt: „Es ist unglaubwürdig, dass der tatsächliche Lehrinhalt vom Text der Folien gravierend abweicht.“ Seine Forderung: Eine Arbeitsgemeinschaft zur Zertifizierung von Gutachtern sollte richtiges und unmissverständliches Arbeitsmaterial herausgeben.

Was zudem stutzig macht, ist Tegenthoffs Tätigkeit als Mediziner an den Berufsgenossenschaftlichen Kliniken. Röder sagt: „Als solcher ist er einer Partei in den Rentenstreitigkeiten zuzuordnen, nämlich den Berufsgenossenschaften.“ Die IkU hat die DGN darauf aufmerksam gemacht. Auf Anfrage der taz, ob die Unparteilichkeit gewährleistet sei, fühlte sich der Vorsitzende der Gesellschaft aber nicht zuständig. Er verwies wieder an den kritisierten Kollegen von der Arbeitsgruppe. Dabei erläutert die DGN auf ihren Internetseiten, dass sie hohe Ansprüche an die Unparteilichkeit von Gutachtern stellt – und an die Offenlegung von Interessenkonflikten ihrer Referenten und Autoren.

Die DGN ist eine angesehene medizinische Fachgesellschaft. Ein Zertifikat – von einer DGN-Arbeitsgruppe vergeben – kann die Glaubwürdigkeit eines Gutachters erhöhen. Zum Beispiel vor Gericht. Bisher haben rund 120 Gutachter dieses Zertifikat. Darunter auch solche, die früher die wissenschaftlich unhaltbaren Kriterien vertreten hatten.