Das Ende der Aufklärung

Das berühmte Institut für Sexualwissenschaft in Frankfurt soll geschlossen werden. Dies wäre mehr als bedauerlich! Es wäre ein zivilisatorischer Verlust – und ein Abschied vom kostbaren aufklärerischen Zeitgeist

VON JAN FEDDERSEN

Die Nachricht erreichte das Institut kurz vor den Festtagen: Der Dekan und eine Kommission des Fachbereichs Medizin der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität in Frankfurt gaben ihre Absicht bekannt, das Institut für Sexualwissenschaft zum Ende nächsten Jahres zu schließen. Es geht um eine legendäre Einrichtung, dessen Wissenschaftler zu den prominentesten der deutschen Science Community zählen: Volkmar Sigusch, Martin Dannecker und Sophinette Becker.

Als Grund für diesen Schritt wurden Sparmaßnahmen benannt. Es geht um 600.000 Euro pro Jahr – ein Quantum, das jedes halbwegs seriös arbeitende Biotechinstitut mit universitärer Anbindung ohne Drittmittelförderung locker in einem Vierteljahr verbrät. Möglicherweise ist die beabsichtigte Schließung des Instituts nur ein weiteres Mosaiksteinchen in dem Plan, die deutsche Universitätslandschaft weitgehend von jenen Disziplinen zu befreien, die die gesellschaftlichen Voraussetzungen ihres eigenen Tuns mitreflektieren (müssen): die Geistes-, Sozial- und Politikwissenschaften. In Göttingen stehen die Politikwissenschaftler zur Disposition, andernorts andere Fächer, die keinen ökonomischen Nutzen versprechen.

Dazu zählen auch jene beiden Institute, die – was die Diskurskraft betrifft, relevant wie keine sonst – in den letzten 40 Jahren eine Sexualwissenschaft etabliert haben: das bereits Ende der Fünfziger gegründete Hamburger Institut für Sexualforschung wie das Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft im Jahre 1973; die Studentenbewegung war längst auf ihrem Marsch in die Institution Universität – und suchte akademisch zu formulieren, was gesellschaftlichen (Selbst-)Aufklärungsbedarf anmeldete: alles zum Thema Sex.

Jüngere können es nicht erinnern, Ältere denken an jene Zeit davor aber mit unwohligem Schauern: Sexualität überhaupt war immer noch Gegenstand allergrößter Beschämung, eine Veranstaltung von Peinlichkeit und Angst. Und medizinisch formuliert ein streng gehandhabtes Unterfangen. Was nicht dem vermeintlich natürlichen Setting des Heterosexuellen entsprach, galt es zu pathologisieren, für störend, dysfunktional und tilgungswert zu halten. Mann trifft Frau und beide zeugen Kinder – das war (und ist) das christliche Modell, das gerade nach dem Zweiten Weltkrieg reinszeniert wurde – und ein Strafrecht schuf, das von ordokonservativen Sittenwächtern in Paragrafen gepresst schien. Ein Horrortableau, das alle Liberalität, die die Weimarer Republik noch hervorbrachte, dementierte.

Homosexualität war verboten, Abtreibung ohnehin, Onanie rückenmarkschädigend, Nacktheit in toto verpönt, Lust am Sex überhaupt, Begehren und Sehnen generalverdächtig, alte Menschen schienen trieblos und Kinder selbstverständlich auch. Sexualität galt als schmutzig, als hormonell gesteuerte Versuchung, die vom Teufel gesteuert schien – akzeptabel lediglich dann, wenn sie der Fortpflanzung dienlich war; dem, wie es hieß, „gesunden Volkskörper“.

Volkmar Sigusch, Mediziner mit dem Schwerpunkt Psychiatrie, war der Initiator des Instituts – er und andere dekonstruierten die restriktiven Auffassungen von dem, was Menschen miteinander (oder für sich) Spaß machen kann. Sie knüpften freilich an Traditionen an, an die Arbeiten von Dissidenten ihrer Zeit. An Magnus Hirschfeld, an Alfred Kinsey, an Margret Mead, der Erforscherin der so genannten edlen Wilden, an Sigmund Freud vor allem, aber auch an weniger akademische Projekte. An Frauen wie Beate Uhse (Sexartikel-Kaufhauschefin) oder Oswalt Kolle, der in den frühen Sechzigern mit seinen Aufklärungsstreifen den Deutschen signalisierte, dass unterhalb der Oberbekleidung kein Schmutz lauerte.

Sie alle – wie später, Mitte der Siebziger, ja auch Alice Schwarzer, inspiriert von Simone de Beauvoir, den Feminismus mit Macht begründend – räumten mit der Idee auf, dass Sexualität Ähnlichkeit mit einer Dampfmaschine hat, welche nur ein tüchtig funktionierendes Ventil brauche, um nicht gemeingefährlich zu werden. Zu kämpfen galt es gegen ein Establishment, das glaubte, Homosexuelle umpolen zu können – und sei es mit gehirnchirurgischen Eingriffen. Alle Sexualaufklärer einte ein Credo: Eigenheit ist die Stärke eines jeden Menschen – also gibt es nicht eine, sondern eine Fülle von Sexualitäten. Volkstümlich gesprochen: jeder und jede nach seinem und ihrem Geschmack.

Der Hamburger Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt, emeritierter Professor am dortigen Institut für Sexualforschung, verflocht diese Einsicht zum Wort von der „Verhandlungsmoral“, die seit Ende der Sechzigerjahre mehr und mehr zur Grundregel aller Paarbildungen werde. Die Frau, im heterosexuellen Sinne so gesehen, nicht mehr als ein Körper, der ein sexuelles Gefäß ist, welches der Mann mit dem seinen füllt, auf dass beide ihre Funktion erfüllen. Schmidt wie die wissenschaftsneutralen Uhse oder Kolle gingen davon aus, dass Sexualität aus sich selbst heraus keine Funktion hat – außer der des Vergnügens und erfüllter Lust.

Würde man aktuell eine Umfrage machen, ob Institute wie die in Frankfurt am Main noch gebraucht würden, bekäme man vermutlich eine Majorität für die Haltung, dass doch alles nicht mehr nötig sei. Im Fernsehen – halb entblößte Leiber, wo man hinschaut, im Kino ebenso. Und im Fernsehen musste die Beratungssendung mit Lilo Wanders („Wahre Liebe“) aus dem Programm genommen werden – die Quoten sanken stetig. Weiß also eine säkulare Gesellschaft wie die deutsche bereits alles über das, was früheren Generationen Schuld- und Schamgefühle bereitete? Was ihnen den Gang zum Kadi einbrachte – und das Gefühl, gesellschaftlich im Abseits zu stehen? Als Frauen ohne Mann, als Männer ohne Frau – als Menschen mit besonderen Gelüsten, mit sadomasochistischen beispielsweise?

Bleiben nur noch Anstrengungen übrig wie die des Hamburger Instituts, in dem das Schwergewicht in jüngster Zeit auf die Forensik gelegt wurde – auf die Lehre und Forschung zu sexuell grundierten Delikten, auf die Gutachterarbeit vor Gericht, wenn Pädosexuelle, Mörder von Kindern angeklagt sind? Volkmar Sigusch selbst spricht von einer fast 40 Jahre währenden Arbeit an der „Entpathologisierung“ des Sexuellen – und sie sei längst nicht am Ende. Bedroht sei nicht nur die Arbeit der Ambulanz seines Hauses, geleitet von Sophinette Becker, einer Anlaufstelle auch von Transsexuellen, die keineswegs in die Fänge der Psychiatrie und ihrer Arbeit fallen möchten – verständlicherweise, denn dort definiert sich Sexualität immer noch als Störung. Aus der Psychiatrie hingegen, darauf weist auch der Sexualforscher Martin Dannecker hin, sind in den vergangenen 100 Jahren keine nennenswerten Beiträge zur Sexualforschung erwachsen.

Tatsächlich war das Frankfurter Institut das einzige in der universitären Landschaft der Bundesrepublik, das sich bedingungslos dem Forschungsgegenstand des Sexuellen gestellt hat – ohne die Maßstäbe bürgerlicher Moral zugrunde zu legen. Anerkennend wurde das Studium der Sexualwissenschaft vor zwei Jahren zum Wahlpflichtfach der medizinischen Ausbildung gemacht: Soll dies nun wieder getilgt werden? Es ist eine Zufluchtsstätte für Menschen, die sich sexuell in Not glauben und es oft auch sind. Die am Institut Siguschs geleistete Arbeit an einer Systematik von Diagnostik und Behandlung ist einzigartig. Würde das Institut geschlossen, so Martin Dannecker, werde jedoch eine endgültige Entscheidung getroffen. „Es würde heißen, dass in den nächsten Jahrzehnten keine Chance besteht, es wieder zu gründen.“

Das Institut für Sexualforschung beherbergt die umfänglichste Fachbibliothek zum Thema – mit zahlreichen Nachlässen vertriebener jüdischer Sexualforscher. Sie in alle Winde zu verstreuen hieße, das befürchten Betroffenengruppen, das Wissen nicht zu zerstören, aber es in seiner systematischen Zusammenstellung zu entwerten. Im Januar tagt der Fachbereichsrat der medizinischen Fakultät. An ihm hängt es, ob dieses Institut weiter darf, was es sollte: das menschliche Wissen über die Liebe und über ihre Behinderungen an jener Stelle zu bewahren.