Stete Umwandlung

Die Malerin und Schriftstellerin Anita Albus erzählt von untergegangenen, bedrohten und gefährdeten Vögeln

VON CORD RIECHELMANN

Die Wandertaube, wissenschaftlich: Ectopistes migratorius, war vermutlich die zahlreichste Vogelart, die je existiert hat. Wenn ihre Schwärme über Nordamerika auftauchten, verdunkelte sich der Himmel. Die Wolkenwellen der Schwärme fielen mit ohrenbetäubendem Lärm in Felder und Wälder ein, und wenn sich aus der fliegenden Amöbe ein paar Blasen lösten und auf den Bäumen niederließen, krachten nicht selten die Äste unter der Last zusammen.

Dass man heute, da sie ausgerottet sind, noch weiß, wie die Wandertauben im Einzelnen aussahen und sich verhielten, verdankt sich den Bildern und Beschreibungen des amerikanischen Vogelmalers John James Audubon (1785–1851). Audubon, den viele Kunsthistoriker zu den bedeutendsten Malern Amerikas überhaupt zählen, war einer der Ersten, die Vögel nach der freien Natur malten. Er brach damit mit der starren Abbildungsproduktion nach toten oder ausgestopften Leibern. In seinen Bildern entfalte sich ein „geradezu überbordendes, hysterisches Leben“, schreibt Arnulf Conradi in seinem in der dtv-Reihe „Kleine Philosophie der Passionen“ erschienenen bildlosen Band über Vögel. Für Audubon müssen die Wandertaubenschwärme Ausdruck der dramatischen Bewegung und Lebendigkeit gewesen sein, die er in seinen Bildern auch ruhigeren Arten wie Pelikanen gab.

In „Von seltenen Vögeln“, dem neuen Buch der Malerin und Schriftstellerin Anita Albus, ist durch die Reproduktion der Darstellung von Audubons Wandertaubenpaar das dramatische Element zurückgenommen. Das wird Kalkül sein. Denn für die Ausstattung und Typographie dieses Buches ist wie früher in der Anderen Bibliothek Franz Greno zuständig. Greno hat noch in seinem eigenen Verlag 1986 einer von Uwe Nettelbeck herausgegebenen und übersetzten Ausgabe von Jules Michelets „Der Vogel“ Farbtafeln von Audubons Vogeldarstellungen beigegeben, die das hysterische und, mit einem neueren Wort: psychedelische Moment von Audubons Bildern wunderbar wiedergeben.

Die unspektakuläre Reproduktion aber ist in Anita Albus’ Buch angemessen. Denn Albus will nicht von der überbordend verschwenderischen Naturproduktion erzählen, sondern von untergegangenen, bedrohten und gefährdeten Vögeln. Wer die Vögel bedroht, daran lässt sie keinen Zweifel. Ihr erstes Kapitel „Taubenfinsternis“ erzählt von der Vernichtung der Wandertauben in Nordamerika. Für ihr Vorhaben, dem modernen Menschen dessen in seiner Lebens-, Wirtschafts- und Wissenschaftsform liegendes Zerstörungspotential vor Augen zu führen, ist das Beispiel gut gewählt. Die weißen Siedler erschossen die Tauben und plünderten die Nester ihrer manchmal sich über mehr als 100 Kilometer hinziehenden Brutkolonien, bis ihre Populationen zusammenbrachen und 1914 Martha, die letzte ihrer Art, im Zoo von Cincinnati starb. Man konnte die Tauben auch deshalb nicht retten, weil sie sich im Zoo nicht fortpflanzten.

Es gehört zu den Verdiensten von Albus’ Buch, das sie die Gründe dafür benennt: „Der Überorganismus des Riesenschwarms war zerstückelt. Auf spärliche Schwärme reduziert, waren die vom Herdentrieb geprägten Vögel ihren natürlichen Feinden nicht mehr gewachsen.“ Sieht man vom Begriff Herdentrieb ab, den man hier auch weglassen könnte, weil der Triebbegriff allgemein durch seine beliebige Anwendung auf alles Mögliche unspezifisch faselig geworden ist, heißt das: Die große Zahl ist bei Wandertauben die Voraussetzung für die Entfaltung ihrer Fähigkeiten. Werden sie zu wenige, stellen sie ihre Fortpflanzung ein. Das ist eine biologische Tatsache und steht im Widerspruch zu allen reduktionistischen Tendenzen besonders in der Verhaltensbiologie.

Albus verfährt bei ihren Analysen zu bestimmten Arten so, dass sie wissenschaftliche – alte wie neue – Erzählungen mit mythischen und literarischen Erkenntnissen konfrontiert. Das hat den Vorteil, dass sie den riesigen Wissensschatz, den zum Beispiel die Indianermythen enthalten, einerseits nicht begräbt und ihn andererseits in die Geschichte der Naturgeschichte einreiht, um die es ihr ebenfalls geht.

„Von seltenen Vögeln“ endet mit einer Übersetzung von Buffons Abhandlung über die Vögel aus seiner von 1770 bis 1786 in Paris erschienenen „Histoire naturelle des Oiseaux“. Buffons Abhandlung enthält bemerkenswerte Ansätze, Vögel nicht mehr als lebenslang konstante Wesen zu sehen, sondern als Produkte ihrer Geschichte. Über den Vogelgesang heißt es etwa, dass er sich jedes Jahr erneuere. Diese Einsicht gestattet einen Ausblick auf die Veränderung eines individuellen Vogels in seiner Lebensspanne, die den Boden für die Theorie der Veränderbarkeit der Arten bereitet, die Lamarck dann in der Zeit der Französischen Revolution vornehmen wird. Buffon ist zwar noch weit davon entfernt, die Irritabilität in das Verhältnis von Organismus und Umwelt einzuführen, wie Lamarck später, er sieht aber bereits Veränderungen an Tieren zum Beispiel in der „Dauer des Triebes“ durch die Einwirkung des Menschen. Tiere sind nicht mehr einbalsamierte, essentielle Typen, sondern veränderbare Wesen.

Hinter diese vorrevolutionäre Erkenntnis fällt Albus in ihrer Frontstellung zwischen dem modernen Menschen, der verlernt hat, der Natur den ihr gebietenden Respekt zu zollen, und den Tieren, denen sie ihr Recht zurückgeben will, manchmal zurück. Wenn sie nämlich ihre Kapitel mit „Die kühne Sperbereule“ oder „Der weise Eisvogel“ überschreibt, fixiert sie die Vögel auf eine essentielle Eigenschaft und sieht sie nicht mehr als Produkte der Geschichte, die in dauernder Umwandlung begriffen sind und womöglich gerade auf der „Flucht in eine andere Existenzform“ (Roland Barthes).

Anita Albus: „Von seltenen Vögeln“, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2005, 297 S., 48 Euro