Der Untergang

Mit dem letzten Glockenschlag beginnt draußen die Großoffensive. Jetzt zählt im Bunker nur noch eins: Diese Nacht überleben! An vorderster Front im Silvester-Endkampf

„Wumm!!“

Eine gewaltige Druckwelle erschüttert den Keller. Der Boden wackelt unter unseren Füßen, kurzzeitig gehen die Lichter aus, Kalk rieselt von der Decke, auf dem Öfchen in der Ecke schwappen Wogen durch den Kessel mit der Feuerzangenbowle. Angstvoll drängen sich die Menschen in dem überfüllten Raum, Kinder weinen, Säuglinge fangen an zu schreien.

„ ‚Posener Panzerknacker‘ “, konstatiert der alte Krawuttke fachmännisch, „sechsfach gebimstes Schwarzpulver, angefeilte Reißzwecken und klassischer Fifty-fifty-Zünder, höchstwahrscheinlich rumänischer Bauart.“ Der Luftschutzwart birgt eine verbeulte Blechtasse aus dem Schutt und hinkt damit mühsam zur Bowle: Silvester 88 hat er Ecke Graefestraße sein rechtes Bein verloren. Das Letzte, woran er sich noch erinnern konnte, als er im Urban-Krankenhaus wieder aufwachte und die Bescherung sah, waren zwei Jugendliche und ein Feuerzeug.

Nach einer Phase der Resignation beschloss er, mit seiner Erfahrung in zukünftigen Silvesternächten Menschenleben zu retten.

Der „Held vom Herrmannplatz“ streift tröstend durch die Reihen, beruhigt hier eine Mutter mit Sekt und dort ein Kleinkind mit Eierlikör. Manche sind schon seit dem 28. Dezember hier unten – die einseitige Ernährung mit Sekt und Spekulatius sowie das unsägliche Fernsehprogramm haben sie längst zermürbt. Um Mitternacht stoßen alle auf ihren einzigen guten Vorsatz an: Irgendwie diese Nacht zu überleben.

Mit dem letzten Glockenschlag beginnt draußen die Großoffensive. Die Feiernden scheinen unaufhaltsam vorzurücken. Block für Block wird im Häuserkampf genommen, aus leeren Sektflaschen heult ununterbrochen die Artillerie. Direkt vor dem Eingang zum Partykeller gibt es erneut einen mächtigen Schlag. Eine Frau bekommt einen Schreikrampf – es wird erst besser, als jemand auf eine lustige Tröte bläst. „Mein Gott“, erbleicht sogar Krawuttke, „das war ein ‚Warschauer Wuppdich‘ – der fällt unters Kriegswaffengesetz!“

Er blickt sich um: Überall nur schreckenstarre Gesichter, müde und betrunken. „Irgendjemand muss die Lage auskundschaften“, nimmt er einen entschlossenen Schluck, „wir haben höchstens noch für zwei Tage Rum und Zuckerhüte.“ Ich gebe mir einen Ruck und hebe den Arm.

Der bärbeißige Silvesterveteran wirkt gerührt: „Hannemann, geh du voran – du hast die längsten Hosen an.“ Ich bestimme Freiwillige vom Volkssturm, die, so wie ich, hier nicht unbedingt gebraucht werden, weil sie nicht tanzen, sondern nur in der Küche herumstehen und den Nudelsalat wegessen. Wir schnallen uns Schnapsflaschen und die letzten Kracher an den Gürtel – ein Himmelfahrtskommando mit diesem legalen Schnickschnack, materiell derart unterlegen kommen wir normalerweise nicht mal bis zum Kotti. Der Luftschutzwart drückt jedem von uns still die Hand. Wir gehen die Treppe hoch und lauschen: Momentan scheint es einigermaßen ruhig zu sein. Noch einmal holen wir tief Luft und rücken die lustigen Hütchen zurecht, dann öffne ich die Tür.

Ein Inferno schlägt uns entgegen: Dresden, Hiroshima, Cordoba, Tatütata! An jeder Ecke gibt es Explosionen, liegen Verwundete wimmernd im Rinnstein, zerbrochenes Glas und Stolperfallen aus Luftschlangen. Alles brennt. Beißender Qualm hängt in der Luft; johlende Söldner ziehen mordend, plündernd und brandschatzend durch die Straßen; Blaulicht und rasende Taxen. Zwei meiner Männer ergreifen panisch die Flucht und rennen quer über den Platz in den „Blauen Affen“. Damit haben sich die Armen selbst gerichtet.

Wir anderen drücken uns furchtsam an den Häuserwänden entlang. Der Feind setzt zahllose Kindersoldaten ein: Kleine Händchen zünden Sprengsätze mit einer Entschlossenheit, als wäre alles nur ein tödliches Spiel. Dabei hat der Berliner Tagesspiegel vor Weihnachten eigens dafür gesammelt, dass es keine Kindersoldaten mehr gibt!

Der Türke steht vor der Wiener Straße: Uns empfängt ein Sperrfeuer aus Gas-, Schreckschuss-, und Leuchtspurmunition. Kurzzeitig können wir mit unseren Böllern die Frontlinie begradigen, doch wenn uns Brömme nicht bald hier raushaut, werden wir noch vor Erreichen der Tanke Mariannenstraße restlos aufgerieben.

Der sagenhafte Landesbrandschutzdirektor mit seiner Entsatzarmee aus Löschzügen, Streetworkern und Kehrfahrzeugen, die mit all dem hier aufräumen wird – ein Luftschloss? Krawuttke hatte es doch mit glänzenden Augen versprochen! Mir tun vor allem die im Keller Gebliebenen leid, wenn wir nachher ohne Sixpacks und Chipstüten zurückkommen. ULI HANNEMANN