Verdammt cool

Provozierend unpathetisch und bis zur Schmerzgrenze ernüchternd: Angela Merkel verzichtete in ihrer Neujahrsansprache auf das Gebaren der Macht

von WOLFGANG ULLRICH

Sie war, einmal mehr, dezenter als ihr Vorgänger. Wo Gerhard Schröder sich in den meisten seiner Neujahrsansprachen der Architektur bediente, um besonders machtvoll rüberzukommen, gestand Angela Merkel ihr keine eigene Rolle zu. Diesmal musste die Quadriga des Brandenburger Tors kein geschichtliches Pathos spenden, und auch wenn im Hintergrund, durch das Fenster, das Reichstagsgebäude zu sehen war, dann war das nur ein topografischer Verweis auf die Bundeshauptstadt, aber nicht Anlass für eine symbolträchtige Inszenierung. Unvergessen hingegen, wie vor zwei Jahren Schröders Kopf in der Reichstagskuppel ein Pendant suchte, was zuerst noch ganz witzig, ein Dialog von Exekutive und Legislative sein mochte, spätestens aber geschmacklos wurde, als der Kanzler sich vor die Kuppel schob, die sein Haupt dann als Heiligenschein hinterfing. Damit geriet das Parlament zur Emanation der Macht und Herrlichkeit des Kanzlers – und war nicht länger der Ort, der ihm erst Amt und Autorität verlieh. Ein interessanter Fall einer Ikonografie verletzter Gewaltenteilung.

Also: Bei Angela Merkel ging es ohne Architektursymbolik ab – und auch sonst brauchte sie keine Insignien der Macht. Mag man es etwas salopp als „protestantisch“ titulieren, dass sich die Bundeskanzlerin dafür auf ihre Worte verließ, so rechtfertigt der Inhalt der Ansprache diese Einschätzung. Die Herkunft Angela Merkels aus einem evangelischen Pfarrhaus war diesmal ganz deutlich. Da sie am Anfang noch etwas hastig sprach, überhörte mancher vielleicht ihren ersten Satz: „Was kann man alles in einem Jahr erreichen?“ Kaum vorstellbar, dass Helmut Kohl oder Gerhard Schröder so begonnen, ja dass sie einen solchen Satz überhaupt verwendet hätten. Dieser erste Satz war wie ein Appell an jeden Einzelnen, in sich zu gehen und zu überlegen, ob im endenden Jahr nicht vielleicht zu viel Zeit verschwendet worden sei. Tatsächlich folgte schon ein paar Sätze danach die Aufforderung, sich für das neue Jahr „noch ein wenig mehr“ vorzunehmen. Und wieder etwas später sprach die Kanzlerin erneut davon, alle sollten „noch mehr als bisher tun“.

Hier kam genau die Unrast zum Vorschein, die spätestens seit Max Weber als zentrales Merkmal des Protestantismus gilt – und die zugleich immer wieder als Motor des Kapitalismus identifiziert wurde. Wirtschaftlichen Erfolg aus protestantischen Tugenden herzuleiten, das war tatsächlich das Leitmotiv von Angela Merkels Neujahrsansprache. Oder: Wenn die Deutschen zu lange in den Federn bleiben, dann wird die Arbeitslosigkeit nie zurückgehen. Zwar erlaubte die Kanzlerin ihren MitbürgerInnen, am Silvesterabend zu feiern, ermahnte aber, „ab morgen früh“ solle jeder daran gehen, seine Ideen in die Tat umzusetzen. Nicht mal am Neujahrsmorgen ist somit Ausschlafen erlaubt: Ein Teil dessen, was man in einem Jahr erreichen könnte, ist sonst schon wieder verloren.

Aber damit kein falscher Eindruck entsteht: Den Zeigefinger erhob Angela Merkel nicht, sie war auch nicht schmallippig oder humorlos. Nicht nur nahm sie die Fußball-WM zum Anlass, darüber zu räsonnieren, dass Männer eigentlich auch schaffen könnten, was Frauen bereits geschafft haben, sondern sie brachte ihre Ermahnungen auch äußerst behutsam vor. Ihre Erwartungen an die allgemeine Leistungsbereitschaft sollten nach Möglichkeit niemanden überfordern: „Schritt für Schritt“ solle jeder seine Aufgaben angehen. Das klang ein bisschen nach Reha-Klinik, machte aber vor allem deutlich, was auch bei anderen Gelegenheiten bereits auffiel: Heroische Gesten oder Rekorde sind nicht die Sache der Kanzlerin; vielmehr kann sie geradezu provozierend unpathetisch und bis zur Schmerzgrenze ernüchternd sein.

Als sie den BürgerInnen die Frage stellte, ob sie nicht schon „lange eine Idee“ mit sich herumtrügen, die sie nun im neuen Jahr endlich umsetzen könnten, ließ sie gar nicht erst zu, dass hochtrabende Fantasien wach wurden – sondern fügte zur Entlastung wie zur Entzauberung an: „Es muss gar nichts Überragendes sein.“ Das lässt sich auch für die Neujahrsansprache sagen: Sie war nicht überragend, aber es war wohltuend, dass sie es auch nicht sein wollte.